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Armutsbekämpfung: einig voran schreiten

Armutsbekämpfung: einig voran schreiten

Stellungnahme der Internationalen Baha'i Gemeinde zu Armut

New York—14 February 2008

Teil I

Endlich wird die Krise der weltweiten Armut auf der internationalen Agenda mit hoher Priorität angegangen. Diese erfreuliche Entwicklung hat hektische Diskussionen und Untersuchungen hinsichtlich der Mittel für die Ausrottung dieses für das menschliche Leben hinderlichen Zustandes ausgelöst. Angesichts der Tatsache, dass weder die Flut von Versprechungen durch Regierungen noch die gängigen Theorien und herkömmlichen Ansätze im Stande sind, lang gehegte Vorurteile, Konflikte und Ausbeutung zu überwinden, werden die weltweiten Bemühungen zur Armutsbekämpfung von einem Gefühl der Steuerungslosigkeit überschattet. Zugleich tritt ein spürbarer Optimismus zu Tage, entstanden durch die Aufmerksamkeit und die Dynamik, die die Suche nach Lösungen für diese weltweite Herausforderung erzeugt hat.

Die Mechanismen zur Armutsbekämpfung wurden seit jeher vorwiegend in materiellen Begriffen definiert. Die Hauptsäule der Armutsbekämpfung von Seiten der internationalen Staatengemeinschaft bestand bisher im Transfer finanzieller Mittel. Etwa 2,3 Billionen US-Dollar wurden in den letzten fünf Jahrzehnten in Form finanzieller Hilfe ausgegeben.1] Diese Hilfeleistungen haben tragischer Weise nicht zu größerer wirtschaftlicher Unabhängigkeit geführt, sondern hatten auf die Empfänger oft den gegenteiligen Effekt: noch stärkere Abhängigkeit von ausländischer Hilfe, Unterordnung unter von außen diktierte Prioritäten, Veruntreuung von Geldmitteln und Verminderung des Druckes, Regierungshandeln zu ändern. Entschlossen, hier eine Änderung herbeizuführen, haben die Vereinten Nationen durch ihre Millennium Entwicklungsziele den Versuch gestartet, die Hilfsmechanismen auszuweiten und breitere Unterstützung für die Armutsbekämpfung zu gewinnen.2]

Es wird zunehmend anerkannt, dass Zustände wie die Marginalisierung von Mädchen und Frauen3], schlechtes Regierungshandeln4], ethnische und religiöse Auseinandersetzungen5], Schädigung der Umwelt6] und Arbeitslosigkeit7] wesentliche Hindernisse für Fortschritt und Entwicklung von Gemeinschaften sind. All dies sind Anzeichen einer tieferen Krise – einer Krise, die von den Werten und Einstellungen herrührt, die die Beziehungen auf allen Ebenen der Gesellschaft prägen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet kann Armut als das Fehlen jener ethischen, sozialen und materiellen Ressourcen angesehen werden, die notwendig sind, um die moralischen, intellektuellen und sozialen Kompetenzen von Einzelnen, Gemeinden und Institutionen zu entwickeln. Moralische Urteilskraft, gemeinschaftliche Entscheidungsprozesse und die Abwesenheit von Rassismus – dies sind Beispiele für wesentliche Werkzeuge zur Verminderung der Armut. Derartige Fähigkeiten müssen das Denken des Einzelnen, aber auch institutionelle Abmachungen und politische Entscheidungen prägen. Um es ganz deutlich auszudrücken: das Ziel muss sein, nicht nur das Leid der Armut zu beseitigen, sondern die Massen der Menschheit darin zu engagieren, eine gerechte Weltordnung aufzubauen.

Einzelne und Institutionen müssen Hand in Hand daran arbeiten, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen. Eines der Ziele der Armutsbekämpfung kreist also um den Einzelnen: ihm muss geholfen werden, seine Würde und sein Selbstwertgefühl wiederzuerlangen. Man muss ihn ermutigen, damit er zuversichtlich daran geht, seine Lebensbedingungen zu verbessern, und danach strebt, sein Potential zu verwirklichen. Über das Erreichen persönlichen Wohlergehens hinaus muss er dazu erzogen werden, eine Quelle sozialen Wohls zu werden - des Friedens, der Freude und zum Nutzen seiner Umgebung. Es ist der Grad der Dienstbarkeit für andere, in dem unser Menschsein seinen höchsten Ausdruck findet. Das zweite Ziel kreist um die Institutionen: auf jeder Ebene der Gesellschaft müssen sie als Kanäle dienen, durch welche die Talente und Energien der Einzelnen nutzbar gemacht werden zum Dienst an der Menschheit. Die Mittel, die dazu beitragen, diese Fähigkeiten von Einzelnen und Institutionen zu entwickeln, bilden eine wahre Quelle des Reichtums für eine Gemeinschaft.

So wie physikalische Gesetze die materielle Welt bestimmen, so wird die soziale Welt von moralischen Gesetzen geleitet, die dem Funktionieren einer geordneten Gesellschaft zugrunde liegen. Prinzipien wie die Gleichberechtigung der Geschlechter8], Vertrauenswürdigkeit9], Zugang zu Bildung, Menschenrechte und Religionsfreiheit10] harmonisieren beispielsweise sehr gut mit Maßnahmen die auf sozio-ökonomisches Wohlergehen und Stabilität abzielen. Die Verwobenheit der aus der Armut resultierenden Probleme erfordert die Formulierung von Prinzipien, die für die Analyse, die Entscheidungsfindung und die Entwicklung von messbaren Fortschrittskriterien geeignet sind. Der wesentliche Vorzug eines auf Prinzipien basierenden Prozesses liegt darin, dass er Einzelne und Institutionen von ihrem Fokus auf punktuelle, kurzfristige Anliegen wegführt, hin zu einer systemischen und langfristigen Betrachtungsweise von Problemen. Damit eine Entscheidung Unterstützung mobilisieren und Ergebnisse vorweisen kann, muss der Entscheidungsprozess selbst integer sein: er muss diejenigen, die von den Entscheidungen unmittelbar betroffen sind, mit einbeziehen und von transparenten, gemeinsam vereinbarten ethischen Normen gesteuert werden.

In diesem Zusammenhang möchte die Internationale Baha'i Gemeinde zwei Prinzipien als Leitlinien für die Bemühungen im Bereich der Armutsbekämpfung anbieten: Gerechtigkeit und Einheit. Auf diesen Prinzipien basiert eine Vision von Entwicklung, in der materieller Fortschritt als Mittel zur moralischen und kulturellen Weiterentwicklung der Menschheit dient. Gerechtigkeit verschafft die Möglichkeit, unser menschliches Potential dafür einzusetzen, die Armut aus unserer Mitte zu beseitigen, indem Recht umgesetzt wird, wirtschaftliche Systeme angeglichen, Wohlstand und Chancen neu verteilt und höchste moralische Normen im öffentlichen wie auch im privaten Bereich eingehalten werden. Einheit sorgt dafür, dass Fortschritt systemisch und relational orientiert ist, dass die Sorge um die Integrität der Familie und der lokalen, nationalen und internationalen Gemeinschaft Maßnahmen zur Armutsbekämpfung leiten muss.

Teil II

Staatsführung

Die Frage der Armut erlegt den gewählten Politikern und ihren Regierungen besondere Verantwortung auf. Während manche argumentieren, dass es die Armut ist, die zu schlechtem Regieren führt, bewegt sich die Ursächlichkeit oft in die entgegengesetzte Richtung: besseres Regieren führt zu besseren Entwicklungsergebnissen.11] Entscheidend für das Thema der Staatsführung ist die unausweichliche Frage des Charakters – die Werte, die ein politisch Verantwortlicher in sein Amt bringt, definieren zum großen Teil die Richtung und die Früchte seiner Arbeit. Dabei ist Vertrauenswürdigkeit einer der wichtigsten Werte, denn sie fördert die Glaubwürdigkeit gegenüber der Öffentlichkeit und anderen Politikern, baut Unterstützung für Regierungsinitiativen auf und erzeugt Stabilität und Sicherheit. Erfolgreiche Führer müssen nicht nur eine tadellose Ethik ausüben. Sie müssen auch daran arbeiten, die Beschaffenheit von Wirtschafts-, Sozial-, Rechts- und Bildungsinstitutionen zu stärken, ihre rechtlichen Rahmenbedingungen zu verbessern und knappe Ressourcen bestmöglich zu verwalten. Was ihre Bezüge angeht, so müssen sie mit einem rechtmäßigen und bescheidenen Einkommen zufrieden sein. Da die Politik immer internationaler wird, müssen die gewählten Politiker außerdem die Vision und den Mut zeigen, Schritt für Schritt die nationalen Interessen mit den Anforderungen einer sich kontinuierlich entwickelnden weltweiten Gemeinschaft in Einklang zu bringen.

Gerechtigkeit und Menschenrechte

Die Bemühungen der Vereinten Nationen, Armutsbekämpfung mit der Etablierung internationaler Menschenrechtsnormen zu verbinden, ist ein erfreulicher Schritt, um das Handeln der Regierungen mit den Prinzipien der Gerechtigkeit in Einklang zu bringen. Unser gemeinsames Erbe an Menschenrechtsnormen, die unter anderem die Rechte des Einzelnen und der Familie umfassen sowie Gewissens- und Glaubensfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und ethnische Gleichwertigkeit wie auch das Recht auf Arbeit und auf Bildung, verkörpert die wichtigsten moralischen Errungenschaften der Menschheit. Die Menschenrechte, wie sie von den meisten Regierungen in der Welt befürwortet werden, müssen Eingang finden in die politische Kultur sowie die Rechtskultur und systematisch in die innerstaatliche Gesetzgebung aufgenommen werden. Sie müssen in alle Sprachen übersetzt und durch die Medien und Bildungseinrichtungen allen zugängig gemacht werden. Auf diese Weise können Menschenrechtsnormen die fehlerhaften Rechtssysteme ersetzen, die sich durch repressive und willkürliche Anwendung von Gesetzen gegenüber Menschen kennzeichnen, die sich ihrer Rechte nicht bewusst und unfähig sind, ihre Belange zu artikulieren.

Verantwortung des Einzelnen

Ein Großteil der Verantwortung für die Bekämpfung von Armut liegt bei den Menschen selbst. Auch wenn Armut das Produkt zahlreicher Faktoren ist: historischer, wirtschaftlicher, politischer und Umweltfaktoren, so gibt es auch eine kulturell bedingte Dimension, die sich in individuellen Werten und Einstellungen ausdrückt. So lange zum Beispiel Mädchen und Frauen unterdrückt werden, so lange der Wert der Erziehung missachtet und das Recht des Einzelnen, sich zu entwickeln, geleugnet wird, so lange können die Bedingungen für Armut nur schlimmer werden. Grundlegende Qualitäten des Menschen wie Ehrlichkeit, Bereitschaft zu arbeiten und zu kooperieren können hingegen genutzt werden, um enorm herausfordernde Ziele zu erreichen. Allerdings müssen die Mitglieder einer Gesellschaft darauf vertrauen können, gesetzlich geschützt zu sein, und die Vorteile müssen allen in gleicher Weise zukommen. Will man also Veränderungen in Einstellungen und Verhaltensweisen bewirken, kann sich die Umsetzung des Menschenrechtsansatzes mit seiner Betonung auf ein Set individueller Rechte ohne einen damit einhergehenden moralischen Einfluss als schwierig erweisen.

Geschlechterfragen

Das Thema der Gleichberechtigung der Geschlechter ist ein solches Beispiel: im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte gab es immer wieder Treffen, bei denen die Staaten anerkannt haben, dass Frauen eine entscheidende Rolle dabei spielen, die Entwicklungsziele voranzutreiben. Natur- und Sozialwissenschaften haben die Grundlagen, auf der die Diskriminierung fußte, längst ad acta gelegt; die meisten Länder haben Gesetze verabschiedet, die den Frauen die gleichen Chancen zugesichert haben wie den Männern; Abkommen wurden unterzeichnet und ratifiziert; neue Maßstäbe und soziale Indikatoren wurden etabliert. Doch nach wie vor ist die Beteiligung der Frauen in den Bereichen von Gesetzgebung, Politik, Naturwissenschaft, Handel und Religion, um nur einige wenige zu nennen, höchst unzureichend. Wo Frauen hingegen Zugang zu Bildung, bezahlte Arbeit und Eigentumsrechte bekommen haben, kann man tiefgreifende Veränderungen auf vielen Ebenen beobachten: im Familienverband eine gerechtere Verteilung von Nahrung, Ressourcen und Gesundheitsvorsorge unter Mädchen und Jungen; eine höhere Alphabetisierungsrate bei den Kindern; eine niedrigere Geburtenrate, die ihrerseits bessere wirtschaftliche Bedingungen und gesündere Mütter zur Folge hat; das Einbringen neuer Anliegen in den öffentlichen Diskurs. Allein die Tatsache, dass Frauen lesen und schreiben können, spielt nachgewiesenermaßen eine größere Rolle bei der Förderung von sozialem Wohlergehen als jede andere Variable, die den allgemeinen Wohlstand einer Gesellschaft beeinflusst.12] Wo wirtschaftliche und soziale Bedingungen und gesellschaftliche Akzeptanz die Förderung von Frauen begünstigen, bessert sich das Wohlbefinden der ganzen Familiedrastisch. Für die allmähliche Wandlung der Einstellungen war jedoch viel mehr vonnöten als bloße Gesetzesmaßnahmen – es bedurfte eines grundlegenden Wandels der Überzeugungen über die Rolle von Männern und Frauen und des Mutes, traditionelle Geschlechternormen in Frage zu stellen.

Wirtschaftliches Handeln

Es kann nicht bestritten werden, dass das Fortbestehen der Armut durch eine Wechselwirkung von sozialen und materiellen Faktoren bestimmt wird. Diese Wechselwirkung entscheidet über den gesellschaftlichen Nutzen materieller Ressourcen - ob die Ressourcen sich in den Händen weniger befinden oder gerecht verteilt werden, ob sie für die Gesellschaft als Ganzes nutzbringend oder schädlich sind. Heutzutage stehen viele wirtschaftliche Aktivitäten und ihr institutioneller Rahmen in Konflikt mit ökologischer Nachhaltigkeit, den Aufstiegschancen von Frauen, dem Wohlergehen der Familie, der Einbeziehung junger Menschen, der Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen und der Erweiterung des Wissens. Militärausgaben belaufen sich beispielsweise auf mehr als eine Billion US-Dollar13], und der weltweite Handel mit illegalen Drogen übersteigt mit 300 Mrd. US-Dollar14] bei weitem die geschätzten Kosten der globalen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen in den Bereichen Ausbildung, Gesundheit, Nachhaltigkeit und Frauenförderung.15] Die Wirtschaftstheorien über ungezügelte Märkte, welche egoistische Aktivitäten Einzelner begünstigen, haben der Menschheit alles andere als geholfen, extreme Armut auf der einen und extreme Verschwendung auf der anderen Seite zu vermeiden. Dagegen müssen für die heutige Zeit neue wirtschaftliche Theorien von einer Motivation getragen sein, die über reinen Profit hinausgeht. Sie müssen in der sehr menschenorientierten und sozialen Dimension wirtschaftlichen Handelns verwurzelt sein, die uns als Familien, als Gemeinschaften oder als Weltbürger aneinander bindet. Sie müssen getragen sein von einem Geist der Innovation, nicht der blinden Nachahmung, der Veredelung, nicht der Ausbeutung, und der vollständigen und überzeugenden Beteiligung der Frauen.

Extremer Reichtum

Die wirtschaftlichen Überlegungen, die den Bemühungen zur Armutsbekämpfung zugrunde liegen, konzentrieren sich im Allgemeinen auf die Schaffung von Reichtum. Sie haben jedoch das parallel dazu existierende Problem der übertriebenen Anhäufung von Reichtum noch nicht in vollem Ausmaß in Betracht gezogen. In einer vernetzten Welt, in der das Vermögen vieler der reichsten Menschen das Bruttosozialprodukt ganzer Nationen übersteigt, existieren extreme Armut und extremer Reichtum Seite an Seite. Viele der Entwicklungshilfemaßnahmen zielen zwar auf die Ärmsten ab, doch muss das Augenmerk auch dringend auf die Konzentration von Kapital in den Händen weniger gerichtet werden. Der ungeheure Reichtum, der von internationalen Firmen angehäuft wurde, könnte in der Tat integraler Bestandteil des Schlüssels zur Armutsbekämpfung sein – durch strenge Regularien zur Gewährleistung guter Weltbürgerschaft, durch die Einhaltung von Menschenrechtsstandards und durch die Verteilung des Wohlstandes, damit der breiteren Gesellschaft zu Gute kommt. Wenn es um den Reichtum einer Nation geht, ist es eher eine Frage der sozialen Wertigkeit und weniger eine des Brutto-Geldwertes. Das Bruttosozialprodukt ist beispielsweise die Summe aller wirtschaftlichen Tätigkeiten – darunter auch die Produktion von Waffen, Zigaretten usw. – ohne Rücksicht auf ihren sozialen Wert oder die Belastung der Umwelt. Neue Maßstäbe sind nötig, bei denen alles mit einbezogen wird: Umweltschäden und wirtschaftliche Übel und ebenso die nie berechneten und nie bezahlten Leistungen. Nur so kann man ein klareres Bild von dem wirtschaftlichen Befinden und dem Wohlergehen einer Nation erhalten.16]

Nachhaltige Entwicklung

Es ist weithin anerkannt, dass der wirtschaftliche Aufschwung eine enorme Belastung unserer natürlichen Umwelt mit sich gebracht hat.17] Tatsächlich hat kein Land sich zu einer größeren Industrienation entwickelt, ohne ein Erbe erheblicher Umweltschäden hinterlassen zu haben, das Sicherheit und Wohlergehen des eigenen Volkes beeinträchtigt, wie auch – und das ist genauso wichtig – die Sicherheit und das Wohlergehen von Entwicklungsländern. Das wachstumsorientierte wirtschaftliche Paradigma, das auf nationalen Interessen und auf den Ausschluss sozialer und ökologischer Variablen sowie der Missachtung eines weltweiten Wohlergehens basiert, wird zunehmend einer genauen Überprüfung unterzogen. Schwierige moralische Fragen der Verteilung von Ressourcen und der Verantwortung für entstandene Schäden zwingen die Regierungen dazu, institutionelle Mechanismen einzuführen und Verfahren zu entwickeln, die das Gedeihen und die Gesundheit der weltweiten Gemeinschaft und der zukünftiger Generationen berücksichtigen. Auf institutioneller Ebene ist ein globales Gremium mit stark wissenschaftlicher Beratungsfunktion nötig, um die Prozesse der Berichterstattung und der Entscheidungsfindung aufeinander abzustimmen, wobei auch Stimmen nicht-staatlicher Akteure gehört werden müssen. Dieses Gremium muss Umweltthemen auf schlüssige Weise mit sozialen und wirtschaftlichen Prioritäten in Beziehung setzen, denn keines dieser Belange kann isoliert vorangetrieben werden.18] Im Bildungsbereich müssen Lehrpläne zum Ziel haben, ein Verantwortungsgefühl gegenüber der Umwelt zu entwickeln und eine forschende und innovative Einstellung zu fördern, damit die Vielfalt menschlicher Erfahrung der Herausforderung begegnen kann, einen Weg der nachhaltigen Entwicklung einzuschlagen, ohne zugleich die Umwelt zu schädigen.

Landwirtschaft

Ein wesentliches Element der Strategie nachhaltiger Entwicklung ist die Reform landwirtschaftlicher Politik und ihrer Verfahren. Lebensmittelherstellung und Landwirtschaft sind weltweit die größten Arbeitgeber; fast 70 Prozent der Armen in Entwicklungsländern leben in ländlichen Gebieten, und ihr Lebensunterhalt hängt von der Landwirtschaft ab.19] Obwohl die Landwirtschaft durch die verarbeitende Industrie und eine schnell wachsende städtische Bevölkerung entwertet wurde, bildet sie noch immer die Basis des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Unterernährung und die Ungewissheit der Versorgung mit Nahrungsmitteln ersticken alle Versuche der Entwicklung und des Fortschritts. Trotz dieser Schlüsselrolle kommt Armut gehäuft in ländlichen Gebieten vor. Die Schädigung der natürlichen Ressourcen und der Mangel an Information und Infrastruktur führen oft zu instabiler Versorgung, erhöhter Sterblichkeit und Landflucht in städtische Gebiete auf der Suche nach einem besseren Leben. Die Bauern müssen ihren rechtmäßigen Platz im Entwicklungsprozess und dem Aufbau einer Zivilisation einnehmen: wenn die Dörfer einmal wieder aufgebaut sind, werden die Städte folgen.

Beschäftigung

Die Bereitstellung sinnvoller Arbeit stellt einen wesentlichen Bestandteil der Anstrengungen zur Armutsbekämpfung dar. Die sinnvolle Beschäftigung junger Menschen wird sogar noch wichtiger, weil die städtische Bevölkerung wächst und damit auch die Armenviertel, die Kriminalitätsrate, der Drogenkonsum, Arbeitslosigkeit und das Zusammenbrechen von Familienstrukturen und soziale Isolation. Heutzutage machen junge Menschen zwischen 15 und 29 Jahren fast die Hälfte der Erwachsenen in den hundert wirtschaftlich benachteiligsten Nationen aus.20] Der Mangel an sinnvoller Arbeit verstärkt ihr Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Frustration. Es muss jedoch nicht nur der Umfang, sondern auch die Qualität und der Sinn der Arbeit neu überdacht werden. Egal ob man ein Feld bestellt oder Waren verkauft, sollte die Arbeit nicht lediglich als Mittel angesehen werden, um mehr Dinge zu kaufen, oder als ein entbehrlicher Kostenfaktor. Die Arbeit eines Menschen ist das Mittel, seine Fertigkeiten zu entwickeln, seinen Charakter zu verfeinern und zum Wohlergehen und dem Fortschritt der Gesellschaft beizutragen. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit muss in der Tat mit der Betonung der Würde und dem Wert jedweder menschlichen Arbeit anfangen, sei sie auch gering, unsicher, unrentabel oder unbezahlt.

Wissen

Einer sinnvollen Teilhabe am Fortschritt der Gesellschaft und den höheren Zielen der Kultur liegt dass Bollwerk der Erziehung zu Grunde. Auch wenn sich viele Programme zur Beseitigung der Armut darauf konzentriert haben, die Teilnehmerzahlen an Grund- und weiterführenden Schulen zu erhöhen – was ein erster Schritt ist –, so muss doch auch das langfristige Ziel formuliert werden: nämlich eine Gesellschaft zu schaffen, in der alle Aspekte menschlicher Aktivität vom Schaffen, Verbreiten und Anwenden von Wissen durchdrungen sind. Dies erfordert das Eingreifen auf allen Ebenen: Methoden der Erziehung, die Fragen der Kinder fördern, gleiche Bildungschancen für Jungen und Mädchen, die Entwicklung unabhängiger Medien, die Übersetzung von Texten anderer Kulturen und die Förderung von Innovation und wissenschaftlicher Forschung. Soll der menschliche Geist frei sein, neues zu erfinden und Lösungen für komplexe Probleme zu ersinnen, so muss er die Freiheit haben, Wissen zu erwerben.

Religion

Das Konzept von Wissen, das jetzt erforderlich ist, um die Bemühungen bei der Armutsbekämpfung zu steuern, muss sowohl auf die Armut an Gütern wie auch auf die Armut an Geistigkeit angewandt werden können. Materielle Ressourcen sind zweifellos unentbehrlich, doch sie allein können keine Vision des vollen Maßes menschlichen Wohlstands generieren; sie können keine Antwort auf die tiefsten Fragen der menschlichen Natur oder den Sinn unseres Daseins geben. Wichtiger noch, materielle und technische Dimensionen allein werden nicht die grundlegenden Veränderungen im menschlichen Charakter und Glauben hervorbringen können, die nötig sind, um die destruktiven Verhaltensweisen zu überwinden, die zu der heutigen Situation geführt haben. Sie werden nicht imstande sein, den menschlichen Willen anzuregen und darin zu bestärken, Langmut zu haben, nach Vortrefflichkeit zu streben, demütig zu dienen, schöpferisch tätig zu sein, nach Wissen zu streben, Schönheit zu kultivieren und das Wohlergehen der ganzen Menschheit anzustreben. Die geistige Dimension und ihren Ausdruck in den Religionen der Welt mit einzubeziehen, bedeutet nicht, zum Aberglauben oder Fanatismus zurückzukehren oder rationales Denken in irgendeiner Weise anzuprangern. Es geht eher darum, bei den Bemühungen der Armutsbekämpfung auf ganzheitliche Weise alle Dimensionen menschlicher Erfahrung einzubinden  sowie ein Verständnis davon, wie Armut sich in den materiellen und den geistigen Dimensionen des menschlichen Lebens manifestiert.

Bei unseren Bemühungen, Armut zu beseitigen, erleben wir nichts weniger als die Geburtswehen einer wahrhaft weltweiten Zivilisation: Neue Denkansätze, neue Standards und neue gesetzliche und institutionelle Gefüge ringen darum, sich durchzusetzen. So wie unser Verständnis der Probleme und ihrer möglichen Lösungen sich ausweitet, so ebnet ein noch nie da gewesener globaler Konsens und die dazu gehörige Möglichkeit weltweiter Zusammenarbeit den Weg für ein Ergebnis, das großartiger ist als irgendetwas, das wir bisher erreichen konnten. Um aber das Wissen und das Engagement zu generieren, das vonnöten ist, um Armut zu überwinden, muss der Mensch das volle Spektrum geistigen und intellektuellen Potentials für dieses Unternehmen aufbieten. Und wenn die Fülle unseres Menschseins sich diesem Prozess verpflichtet hat, wird es die Struktur von Zivilisation erneuern.

 

 

[1] Easterly, William. The White Man’s Burden: Why the West’s Efforts to Aid the Rest Have Done So Much Ill and so Little Good. The Penguin Press: New York, 2006.

[2] Die Millennium Entwicklungsziele, die im Jahr 2000 formuliert wurden, sind die Strategie der Vereinten Nationen, extreme Armut bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Die acht Termin-gebundenen Ziele beinhalten: Beseitigung extremen Hungers und extremer Armut, Förderung der Gleichberechtigung der Geschlechter, Verminderung der Kindersterblichkeitsrate, Verbesserung der Gesundheitsvorsorge werdender Mütter, Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen Krankheiten, Gewährleistung nachhaltiger Umweltverträglichkeit, Aufbau einer weltweiten Partnerschaft für Entwicklung.

[3] Mason, Andrew D. und Elizabeth M. King. Engendering Development through Gender Equality in Rights, Resources, and Voice. Ein Forschungsbericht der Weltbank: Washington, DC, 2001; Towards Achieving Gender Equality and Empowering Women. Internationales Forschungszentrum für Frauen: Washington, DC, 2005; Chen, M. et al. Progress of the World’s Women 2005: Women, Work & Poverty. UN Frauen-Fonds: New York, 2005.

[4] Kaufmann, Daniel; Aart Kraay und Massimo Mastruzzi. Governance Matters IV: Governance Indicators for 1996 – 2004. Weltbank: Washington, DC, 2005; Arab Human Development Report 2004: Towards Freedom in the Arab World. Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen: New York, 2004. Am 17. September 2007 berichtete der Nachrichtendienst der Vereinten Nationen, dass jährlich ein Viertel des Bruttoinlandproduktes der afrikanischen Staaten (148 Mrd. US-Dollar) der Korruption zum Opfer fällt.

[5] Human Development Report 2004. Cultural Liberty in Today’s Diverse World. Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen: New York, 2004.

[6] Stern, Nicholas. Stern Review: The Economics of Climate Change, HM Treasury: London, 2006.

[7] World Employment Report 2004-2005. Employment, Productivity and Poverty Reduction. Internationaler Arbeiterverband: Genf, 2004.

[8] Siehe 3.

[9] Siehe 4.

[10] “The Failed States Index,” Foreign Policy, Juli/August 2007, 55-63.

[11] Siehe 2 oben.

[12] Sen, Amartya. Development as Freedom. Anchor: New York, 2000.

[13] United Nations Peacekeeping Operations Background Note. Büro für Öffentlichkeitsarbeit der Vereinten Nationen: New York. 30. November 2005 (Beträge in US-Dollar, 2005).

[14] World Drug Report 2007. UN Büro für Drogen und Kriminalität: New York, 2007.

[15] Das UN-Millennium-Projekt schätzt die Kosten, die aufgewendet werden müssen, um die Ziele der Millennium-Entwicklungsziele in allen Ländern zu erreichen, auf etwa 121 Mrd. US-Dollar im Jahr 2006, und bis 2015 ansteigend auf 189 Mrd. US Dollar. (UN Millennium Project 2005. Investing in Development: A Practical Plan to Achieve the Millennium Development Goals. Overview. UN-Entwicklungsprogramm: New York, 2005).

[16] Verschiedene Wissenschaftler untersuchen alternative Maßstäbe, um das nationale Vermögen zu messen. Der „Genuine Progress Indicator” (dt. „Tatsächlicher Fortschrittsindikator“) ist eine solche Initiative. Im Unterschied zu dem traditionellen Maßstab des Bruttoinlandprodukts (BIP) versucht der GPI, Umweltverschmutzung und wirtschaftliche Missfolgen abzuziehen und bisher nicht einkalkulierte Beiträge wie beispielsweise Hausarbeit und Familienzeit mit einzuberechnen, um ein klareres Bild des nationalen Vermögens zu ermitteln. Für 2002 (das aktuellste Jahr mit GPI Daten) errechnete die Nicht-Regierungsorganisation „Redefining Progress“, dass in den USA zwischen 1972 und 2002 der GDP um 79% pro Kopf wuchs, während der GPI nur um 1% anwuchs (Jason Venetoulis und Cliff Cobb. The Genuine Progress Indicator 1950-2002 (2004 Update). Redefining Progress: Oakland, CA, 2004).

[17] Berichte des „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (1988 von der Internationalen Meteorologischen Organisation und dem UN Entwicklungsprogramm gegründet) werden in den Debatten zum Klimawandel oft zitiert. Die aktuellsten Berichte mit dem Titel Climate Change 2007 beinhalten: The Physical Science Basis; Impacts, Adaptation and Vulnerability und Mitigation of Climate Change. Sie wurden 2007 von der Cambridge University Press veröffentlicht.

[18] Auf nationaler Ebene müssen die umfangreichen Anforderungen der Berichterstattung einander angepasst und konsolidiert werden, damit die Länder ihren Verpflichtungen effektiv und kohärent nachkommen können.

[19] Dixon, John, Aidan Gulliver and David Gibbon. Farming Systems and Poverty: improving farmers' livelihoods in a changing world. Eine gemeinsame Studie der „Food and Agriculture Organization“ (FAO) der Vereinten Nationen und der Weltbank: Rom und Washington, DC, 2001. URL: ftp://ftp.fao.org/docrep/fao/003/y1860e/y1860e00.pdf

[20] World Watch Institute, Vital Signs 2007-2008, 74.

Stellungnahme der Internationalen Baha'i-Gemeinde zum 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

Stellungnahme der Internationalen Baha'i-Gemeinde zum 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

New York—6 February 2008

Zu Beginn dieses Jubiläumsjahres möchten wir die einmalige und fortdauernde Bedeutung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte betonen. Die Annahme dieser Erklärung am 10. Dezember 1948 markiert eine der ersten gemeinsam verfassten Verlautbarungen einer internationalen Staatengemeinschaft. Ohne eine Gegenstimme bestätigten die 56 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen aus allen Regionen der Welt die dem menschlichen Wesen eigene Würde und die Herrschaft des Gesetzes über das Recht des Stärkeren. Sie stellten das Wohlergehen des Einzelnen in den Mittelpunkt internationalen Rechts. Das moralische Terrain internationaler Beziehungen wurde neu vermessen. Bis heute hat dieses historische Dokument die Entstehung über 60 weitere internationale Verträge und Konventionen angeregt, die wiederum zunehmende Wirksamkeit erlangt haben durch ihre Umsetzung in nationale Rechtssysteme.

In dem Maß, wie wirtschaftliche Ungleichheit, Gewalt, Vorurteile und der Abbau natürlicher Lebensgrundlagen der Weltbevölkerung verheerende Schäden zufügen, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Verantwortung der Staaten zum Schutz und Förderung der Menschenrechte. Die weltweiten Missstände helfen, ein neues Bewusstsein internationaler Verantwortung zu erzeugen, und dabei das Konzept der Staatensouveränität von einer rein innerstaatlichen Rechtsauffassung zu mehr globaler Verantwortung umzugestalten. Das reifende Bewusstsein, eine weltweite Staatengemeinschaft zu sein, die Entstehung von Mechanismen zur Umsetzung der Menschenrechte und deren Überwachung sowie das Aufkommen einer lebendigen Zivilgesellschaft, die diese Rechte unterstützt, gibt Anlass zu der Hoffnung, dass eine weltweite Ordnung errichtet werden kann, die in der Lage ist, die Würde und Größe des Menschen zu sichern.

Als weltweit verbreitete Religionsgemeinschaft, bestehend aus mehr als 2.000 ethnischen Gruppen, die in über 189 Ländern und Territorien leben, bekräftigen wir uneingeschränkt die Universalität der Menschenrechte, so wie sie in dieser Erklärung bestimmt sind. Wie die Vereinten Nationen wiederholt betont haben, sind alle Menschenrechte universell und unteilbar, sie stehen miteinander in Wechselbeziehung und sind von einander abhängig. Staaten haben, unabhängig von ihrem politischen, ökonomischen und kulturellen System, die Pflicht, alle Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten zu fördern und zu schützen.

Unter diesen Rechten sind vor allem die Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit – in dieser Erklärung ohne Einschränkungen verankert – zur Sicherung der Würde jedes Menschen von grundlegender Natur. Noch immer wird in vielen Teilen der Welt dem Einzelnen das Recht auf die Freiheit etwas zu wissen und etwas zu glauben kategorisch verweigert. Mensch zu sein bedeutet aber, nach der Wahrheit zu suchen. Ohne Gewissensfreiheit, ohne die Möglichkeit, die eigenen Glaubenssätze zu wählen, sie zu wechseln und zu praktizieren, ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, jegliche anderen Rechte wahrzunehmen. Seit vielen Jahren suchen daher verfolgte Menschen und Gemeinden Zuflucht unter dem Schutz dieses Rechts. Auf Basis seiner eindeutigen Bestimmungen über Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit haben Bahá’í sowie andere religiöse Minderheiten seinen Schutz erfahren.

Über Jahrzehnte haben die Bahá’í eine aktive Rolle bei der Bekanntmachung dieses historischen Dokuments und den darin enthaltenen Ideen eingenommen. Tatsächlich geben die einzelnen Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die sozialen und moralischen Prinzipien der Bahá’í-Religion wieder. Im Jahr 1947 leiteten die Bahá’í ihre Vorschläge an die neu gegründete Menschenrechtskommission. Als die Vereinten Nationen völkerrechtliche Konventionen zur verbindlichen Umsetzung der einzelnen Bestimmungen aus der Erklärung verabschiedeten, übersetzten und verbreiteten die Bahá’í-Gemeinden weltweit diese Dokumente, beriefen zu deren Erläuterung öffentliche Veranstaltungen ein und warben für die Ratifizierung der verschiedenen Konventionen. In vielen Fällen haben die Bahá’í Kontakt zu den Vereinten Nationen und zu ihren jeweiligen Regierungen aufgenommen, um auf neuen Handlungsbedarf hinzuweisen und konkrete Anregungen für eine verbesserte Anwendung der Staatenpflichten zur Umsetzung der Menschenrechte zu geben. 1997 setzten die Bahá’í eine weltweite Menschenrechtsbildungskampagne in Gang, die die Dekade zur Menschenrechtsbildung der Vereinten Nationen unterstützte. Dies hat über 100 nationale Bahá’í-Gemeinden dazu motiviert, die Menschenrechtsbildung in ihren jeweiligen Ländern zu stärken.

Heute bemühen sich die Bahá’í mit erneuter Dringlichkeit und Energie darum, die Weltgemeinschaft ins Leben zu rufen, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorgesehen ist. Die weltweite Bahá’í-Gemeinde verpflichtet sich, mit diesen Bemühungen fortzufahren, sie zu verstärken und sich mit anderen zusammen zu tun, um jede Form von Vorurteilen zu beseitigen, die Extreme von Reichtum und Armut zu verringern, die volle Gleichberechtigung von Mann und Frau zu erreichen, die nachhaltige Entwicklung zu fördern und das Verständnis der Weltreligionen untereinander zu verbessern. Auf diese Weise sind wir bestrebt, folgenden Grundsatz der Bahá‘í aufrecht zu erhalten: „Es rühme sich nicht, wer sein Vaterland liebt, sondern wer die ganze Welt liebt.“ Das, was den Verwundbarsten unter uns aufrichtet, richtet uns alle auf.

Über gesetzliche Reformen hinaus: Kultur und Kompetenz in der Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Über gesetzliche Reformen hinaus: Kultur und Kompetenz in der Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Eine Stellungnahme der Internationalen Bahá’í–Gemeinde

New York—2 July 2006

In vielerlei Hinsicht hat sich die Stellung von Frauen und Mädchen in den letzten 50 Jahren bedeutend verbessert. Sie haben höhere Alphabetisierungsraten und Bildungsstandards erreicht, ihr Pro-Kopf-Einkommen gesteigert und sind in herausragende berufliche und politische Positionen aufgestiegen. Darüber hinaus ist es weit verzweigten nationalen und globalen Frauen-Netzwerken gelungen, ihre Belange auf die globale Tagesordnung zu setzen, und gesetzliche und institutionelle Mechanismen zu erwirken, die sich mit diesen Belangen befassen. Trotz dieser positiven Entwicklungen existiert jedoch immer noch eine unbarmherzige Epidemie von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die in jedem Teil der Welt verheerenden Schaden anrichtet. Diese Gewaltepidemie wird aufrechterhalten durch soziale Normen, religiösen Fanatismus und ausbeuterische wirtschaftliche und politische Strukturen. Während die internationale Gemeinschaft darum ringt, Gesetze zum Schutz von Frauen und Mädchen umzusetzen, besteht offensichtlich immer noch eine gewaltige Kluft zwischen den gesetzlichen Regelungen und der kulturellen Realität unserer Werte, Verhaltensweisen und Institutionen.

Die alarmierende Gewalt gegen Frauen und Mädchen existiert vor dem Hintergrund zweier simultaner Prozesse, die die gegenwärtige globale Situation charakterisieren. Der erste ist ein Prozess der Desintegration, der auf jedem Kontinent und in jedem Bereich menschlichen Lebens die Unfähigkeit erschöpfter Institutionen, überalterter Glaubenssätze und in Verruf geratener Traditionen aufzeigt und zu Chaos und dem Niedergang sozialer Ordnung führt. Die nachlassende Fähigkeit der Religionen, moralischen Einfluss auszuüben, hat zu einem moralischen Vakuum geführt, in dem extremistische Stimmen und materielle Weltanschauungen gedeihen, welche die Würde menschlichen Lebens verleugnen. Eine ausbeuterische wirtschaftliche Ordnung, welche die Gegensätze von Armut und Reichtum verstärkt, hat Millionen Frauen in Positionen wirtschaftlicher Sklaverei gedrängt und ihnen ihre Rechte auf Besitz, Erbschaft, körperliche Sicherheit und gleichberechtigte Teilnahme an Produktion und Arbeit genommen. Ethnische Konflikte und zusammenbrechende Staatsgebilde haben zu einem drastischen Zuwachs an Migrantinnen und weiblichen Flüchtlingen geführt – Situationen, in denen Frauen noch größerer physischer und wirtschaftlicher Unsicherheit ausgesetzt sind. Innerhalb von Familien und Gemeinden haben die weite Verbreitung von Gewalt in der Familie, der Anstieg von erniedrigender Behandlung von Frauen und Kindern und die Ausbreitung sexuellen Missbrauchs den Niedergang beschleunigt.

Neben diesem Muster des Zerfalls ist ein zweiter, konstruktiver und einigender Prozess erkennbar. Basierend auf der Ethik der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und unterstützt durch eine ansteigende Solidarität unter den Bemühungen von Frauen in aller Welt, ist in den letzten 15 Jahren das Thema der Gewalt gegen Frauen und Mädchen auf die globale Tagesordnung gesetzt worden. Der umfassende gesetzliche und normative Rahmen, der in dieser Zeit entwickelt wurde, hat eine beunruhigte internationale Gemeinschaft auf die Kultur der Ungestraftheit aufmerksam gemacht, innerhalb welcher solcherart Übergriffe toleriert und sogar stillschweigend geduldet wurden. Im Jahr 1993 wurde in der historischen Erklärung der Vereinten Nationen über die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen ‘Gewalt’ definiert als:

„Jede gegen Frauen auf Grund ihrer Geschlechtszugehörigkeit gerichtete Gewalthandlung, durch die Frauen körperlicher, sexueller oder psychischer Schaden oder Leid zugefügt wird oder zugefügt werden kann, einschließlich der Androhung derartiger Handlungen, der Nötigung und der willkürlichen Freiheitsberaubung, gleichviel ob im öffentlichen oder im privaten Bereich.“[1]

Diese Definition widerspricht der irrigen Ansicht, dass Gewalt gegen Frauen und Mädchen eine private Angelegenheit sei. Das Heim, die Familie, die eigene Kultur und Tradition sind nicht länger die endgültigen Richter über angemessenes Handeln, wenn es um Gewalt gegen Frauen und Mädchen geht. Die anschließende Ernennung einer/s VN Sonderberichterstatterin/s über Gewalt gegen Frauen schaffte noch einen weiteren institutionellen Mechanismus, der dazu dient, die vielfältigen Dimensionen dieser Krise zu untersuchen und die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft zu wecken.

Trotz großer Fortschritte in den letzten fünfzehn Jahren hat das Versagen der Nationen bei der Eindämmung der Gewalt die Mängel eines hauptsächlich reaktiven Ansatzes aufgezeigt und allmählich das umfassendere Ziel der Gewaltprävention in den Vordergrund gerückt. Mit anderen Worten, die internationale Gemeinschaft steht nun vor der Herausforderung, die sozialen, materiellen und strukturellen Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Frauen und Mädchen ihr volles Potential entwickeln können. Die Gestaltung solcher Bedingungen wird nicht nur gezielte Bestrebungen zur Veränderung der gesetzlichen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen der Gesellschaft erfordern, sondern, und ebenso wichtig, wird sie die Transformation von Individuen – Männer und Frauen, Jungen und Mädchen – bedeuten, deren Wertorientierungen bisher auf unterschiedliche Weise ausbeuterische Verhaltensmuster aufrechterhalten. Aus Bahá’í Sicht bildet die Überzeugung, dass jedes Individuum eine geistige und moralische Dimension besitzt, die Essenz eines jeden Programms zum sozialen Wandel. Diese Dimension liegt dem individuellen Verständnis von Lebenszweck und von Verantwortlichkeiten gegenüber Familie, Gemeinde und der Welt insgesamt zugrunde. Neben grundlegenden Änderungen in der gesetzlichen, politischen und wirtschaftlichen Architektur, die langsam Form annehmen, ist die Entwicklung der moralischen und geistigen Fähigkeiten des Individuums ein grundlegendes Element in dem bisher nur flüchtigen Bestreben, der Gewalt gegen Frauen und Mädchen in aller Welt vorzubeugen.

Die Idee, spezifische Moral und Werte zu fördern, ist möglicherweise kontrovers; in der Vergangenheit wurden solche Bemühungen oft mit repressiven religiösen Praktiken oder unterdrückenden, politischen Ideologien und eng definierten Vorstellungen vom Allgemeinwohl assoziiert. Jedoch sind moralische Kompetenzen, wenn sie mit den Idealen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Einklang stehen und darauf abzielen die geistige, soziale und intellektuelle Entwicklung aller Menschen zu fördern, ein Schlüsselfaktor für die Art der Transformation, die nötig ist, damit eine gewaltfreie Gesellschaft entstehen kann. Außerdem müssen diese Kompetenzen in den zentralen sozialen und geistigen Prinzipien unserer Zeit verankert sein – nämlich der wechselseitigen Abhängigkeit und Vernetzung der Menschheit als Ganzes. Das Ziel moralischer Entwicklung verschiebt sich in diesem Kontext: von Vorstellungen individueller ‚Erlösung’ hin zum Streben nach kollektivem Fortschritt der gesamten Menschheit. Unser Verständnis der sozialen und physischen Systeme der Welt hat sich zu diesem Paradigma hin entwickelt, und genauso müssen wir unsere moralischen Kompetenzen entwickeln, um im heutigen Zeitalter ethisch handeln zu können.

Wie kann dies in Bildungsziele übersetzt werden? Eine Reihe von Baha'i-Schulen und Institutionen der höheren Bildung thematisieren spezifische moralische Kompetenzen, die dabei helfen, Kindern und Jugendlichen Fähigkeiten zum moralischen Denken zu vermitteln und ihr Verantwortungsgefühl hinsichtlich der Verbesserung ihrer Gemeinden zu fördern. Die Basis solcher Bildungsinhalte ist der Glaube, dass jeder Mensch ein spirituelles Wesen ist, mit unbegrenztem Potential für edles Handeln. Damit dieses Potential sich zeigt, muss es jedoch bewusst kultiviert werden – eben durch Bildungsinhalte, die auf diese grundlegende, menschliche Dimension ausgerichtet sind. Zu solchen moralischen Kompetenzen gehören unter anderem:

effektiv an nicht-konfrontativen, kollektiven Entscheidungsprozessen teilzunehmen (dies beinhaltet die Transformation von ausbeuterisch-manipulativen Verhaltensmustern, die auf der Anwendung von Zwang und auf der irrigen Idee basieren, dass Konflikt ein Hauptpfeiler menschlicher Interaktion ist);

aufrechtes Handeln, basierend auf ethischen und moralischen Prinzipien;

die Wahrnehmung der eigenen Würde und des eigenen Wertes zu kultivieren; und

mit Kreativität und Disziplin Initiative zu übernehmen;

sich Bildungsaktivitäten zu widmen, die Handlungsmacht und –freiheit kultivieren;

Zukunftsvisionen auf der Grundlage geteilter Werte und Prinzipien zu entwickeln und andere zur Mitarbeit an der Umsetzung der Visionen zu motivieren;

Beziehungen, die auf Dominanz beruhen, zu erkennen und dazu beizutragen, sie in Beziehungen zu verwandeln, die auf Gegenseitigkeit und Dienst beruhen.

Solche Bildungsinhalte haben zum Ziel, das Individuum als Ganzes zu entwickeln – das Geistige mit dem Materiellen ebenso zu verbinden wie das Theoretische mit dem Praktischen und dem Sinn von individuellem Fortschritt mit dem Dienst an der Gemeinschaft.

Während diese Werte in Schulen gelehrt werden können, entwickeln Kinder ihre Vorstellungen über sich selbst, die Welt und den Sinn des Lebens vornehmlich in der familiären Umgebung. In dem Maße, in dem eine Familie darin versagt, die grundlegenden Bedürfnisse der Kinder zu erfüllen, in demselben Maße wird die Gesellschaft mit den Auswirkungen von Vernachlässigung und Missbrauch belastet sein und wird unter den daraus resultierenden Zuständen der Apathie und Gewalt außerordentlich leiden. In der Familie lernt das Kind das Wesen von Macht kennen und wie sie sich in zwischenmenschlichen Beziehungen manifestiert; und in der Familie ist es, wo junge Menschen zuerst lernen, autoritäre Herrschaft und Gewalt als Ausdrucksmittel und Weg zur Konfliktlösung zu akzeptieren oder zurückzuweisen. Vor diesem Hintergrund bedeutet die weit verbreitete Gewalt von Männern gegen Frauen und Mädchen einen Angriff auf die grundlegende Einheit der Gesellschaft und der Nation.

Der Zustand von Gleichberechtigung in Familie und Ehe bedarf einer ständig wachsenden Fähigkeit zu verbinden und zu einigen, anstatt zu trennen und zu individualisieren. In einer sich schnell verändernden Welt, in der Familien sich unter unerträglichem Druck ökologischer, wirtschaftlicher und politischer Umbrüche sehen, nimmt die Fähigkeit, Familienbande intakt zu halten und Kinder auf die Rolle als Bürger/in in einer komplexen und immer "kleiner" werdenden Welt vorzubereiten, überragende Bedeutung ein. Daher ist es notwendig, Männern in ihrer Vaterrolle zu helfen, ihre Verantwortlichkeiten in einer Familie über das wirtschaftliche Wohlergehen hinaus zu verstehen, Beispiele für gesunde Beziehungen zwischen Frauen und Männern zu werden sowie Selbstdisziplin und gleichen Respekt für die männlichen und weiblichen Mitglieder der Familie zu zeigen. Die Rolle des Vaters ergänzt die der Mutter, welche die erste Erzieherin ihrer Kinder ist, und deren Glück, Sicherheitserleben und Selbstwert grundlegend für ihre Effektivität in der elterlichen Fürsorge sind.

Was Kinder in der Familie lernen, erfährt entweder Bestätigung oder Widerspruch in den sozialen Interaktionen und Werten, die das Leben in Gemeinde und Gesellschaft bestimmen. Alle Erwachsenen in der Gemeinde – Lehrer/innen, Krankenpersonal, Unternehmer/innen, politische Vertreter/innen, religiöse Führer/innen, Polizist/innen, Medienfachleute und dergleichen – teilen eine Verantwortung für den Schutz von Kindern. Dennoch erscheint in so vielen Fällen das schützende Netzwerk des Gemeindelebens irreparabel zerrissen: Millionen von Frauen und Mädchen sind jedes Jahr Opfer des Menschenhandels und werden der Zwangsprostitution und sklavenähnlichen Zuständen unterworfen; Migrantinnen sehen sich einer doppelten Ausgrenzung gegenübergestellt, als Frauen und als Migrantinnen, und leiden unter mentalen, physischen und wirtschaftlichen Misshandlungen in ungeschützten Arbeitsverhältnissen; Gewalt gegen ältere Frauen, deren Anzahl angestiegen ist und die keine Mittel zum Selbstschutz haben, hat immens zugenommen; Kinderpornographie hat sich wie ein Virus verbreitet und stillt den Appetit eines grenzenlosen, unregulierten globalen Marktes; in vielen Ländern birgt sogar der Weg zur und Aufenthalt in der Schule für Mädchen ein ungeheures Risiko des physischen und sexuellen Missbrauchs. Was die durch schwache staatliche Strukturen und fehlende Strafverfolgung hervorgerufenen Zustände noch verschlimmert, ist das grundlegende Dilemma, das der Gesellschaft die Frage aufzwingt: Was bringt ein Individuum dazu, das Leben und die Würde eines anderen Menschen auszubeuten? Welche grundsätzliche, moralische Kompetenz hat die Familie und Gesellschaft versäumt zu entwickeln?

In aller Welt haben Religionen traditionell eine tragende Rolle bei der Bestimmung und Kultivierung von gesellschaftlichen Werten gespielt. Heute jedoch stellen viele Stimmen, die im Namen der Religion erhoben werden, das größte Hindernis gegen die Ausrottung von gewalttätigem und ausbeuterischem Verhalten gegen Frauen und Mädchen dar. Indem sie religiöse Appelle als Machtinstrument benutzen, streben Befürworter extremistischer religiöser Interpretationen danach, Frauen und Mädchen dadurch zu ‚zähmen’, dass sie ihre Bewegungsfreiheit außerhalb des Hauses einschränken und somit ihren Zugang zu Bildung begrenzen, ihre Körper schädlichen traditionellen Praktiken unterwerfen, ihre Kleidung vorzuschreiben und sie sogar töten, um Handlungen zu bestrafen, die angeblich die Familienehre herabsetzen. Es ist die Religion selbst, die unbedingt der Erneuerung bedarf. Ein Kernelement dieser Erneuerung muss es sein, dass religiöse Führer sich unmissverständlich für das Prinzip der Gleichberechtigung von Mann und Frau aussprechen und dessen Bannerträger werden – ein moralisches und praktisches Prinzip, das dringend benötigt wird, um in sozialer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht gesellschaftlichen Fortschritt zu erreichen. Heutzutage müssen religiöse Praktiken und Lehrsätze, die eine ungeheuerliche Verletzung der internationalen Menschenrechtsstandards darstellen, eingehender Untersuchung und Prüfung unterzogen werden - in dem Bewusstsein, dass alle Religionen die Stimmen von Frauen enthalten, Stimmen, die jedoch bei dem Diskurs über die sich entwickelnde Definition von Religion und darüber, was sie erfordert, oft fehlten und noch fehlen.

Das Individuum, seine Familie und seine gesellschaftliche Umgebung stehen letztendlich unter dem Schutz des Staates. Und hier ist aufgeklärte und verantwortungsbewusste Führungsqualität unendlich nötig. Die Mehrheit der Regierungen jedoch vernachlässigt weiterhin ihre Verpflichtungen, die Gewalt und Ausbeutung von Frauen und Mädchen zu bestrafen und ihr vorzubeugen. Vielen fehlt der politische Wille; manche versagen darin, angemessene Ressourcen bereitzustellen, um gesetzliche Regelungen in der Praxis umzusetzen. In vielen Ländern existieren keine speziellen Einrichtungen, die sich mit der Gewalt gegen Frauen und Mädchen befassen, und die präventive Arbeit ist, in fast allen Kontexten, auf kurzzeitige Maßnahmen begrenzt.[2] In der Tat können nur wenige Staaten behaupten, auch nur die kleinste Verringerung der weiten Verbreitung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen erreicht zu haben.[3] Viele Staaten verstecken sich weiterhin hinter kulturellen und religiösen Einschränkungen* in internationalen Verträgen, die diese Gewalt verurteilen – und erhalten dadurch weiter ein Klima rechtlicher und moralischer Straffreiheit aufrecht, das die Gewalt und ihre Opfer größtenteils unsichtbar macht.

Den Zeiten der Entwicklung rechtlicher Rahmenbedingungen muss nun ein Schwerpunkt auf praktischer Umsetzung und Prävention folgen. Die Grundlage solcher Maßnahmen ist eine Strategie, deren Herzstück eine Art von Bildung und Training ist, das Kinder dazu befähigt, intellektuell und moralisch zu wachsen und in ihnen ein Gefühl der Würde und Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Familie, Gemeinde und der Welt zu fördern. Aus finanzieller Perspektive bedeutet Vorbeugung den bewussten Einsatz gender-spezifischer Maßnahmen, um sicherzustellen, dass ein angemessener Anteil des Budgets der Bereitstellung von leicht zugänglichen sozialen Diensten und der Strafverfolgung zugewiesen wird. Solche Bemühungen müssen durch klare Definitionen von Gewalt und umfangreiche Methoden zur Datenerfassung verstärkt werden, um nationale Bemühungen in diesem Bereich zu bewerten und das Bewusstsein von Männern und Frauen für die Schwere und die Verbreitung von Gewalt in ihrer Gemeinschaft zu schärfen.

Trotz ihrer wichtigen Führungsrolle in dieser Angelegenheit durch die Erklärung von 1993, ihrer Anerkennung, dass Gewalt gegen Frauen und Mädchen „der Herbeiführung von Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden entgegensteht“ sowie der Arbeit der/s Sonderberichterstatterin/s, war die internationale Gemeinschaft gespalten und träge in der praktischen Umsetzung ihrer Worte. Im Jahr 2003 wurde dieses Versagen während der Beratungen der 47. Frauenrechtskommission deutlich, welche zum ersten Mal in ihrer Geschichte unfähig war, sich auf eine Reihe von Beschlüssen über Gewalt gegen Frauen zu einigen. In diesem Fall wurden kulturelle und religiöse Argumente benutzt, um zu versuchen, die Verpflichtungen der Länder, wie sie in der Erklärung von 1993 beschrieben werden, zu unterwandern. Deshalb ist es notwendig, dass in künftigen Vereinbarungen eine entschiedene Sprache im Zusammenhang mit der Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen gesprochen wird, die nicht nur den gesetzlichen, sondern auch den moralischen Impetus festlegt, der dieser globalen Epidemie angemessen ist.

Um ihren vielen Verpflichtungen gerecht zu werden, muss die internationale Gemeinschaft dramatisch an Macht, Autorität und Ressourcen hinzugewinnen, die den Frauenrechten, der Gleichberechtigung der Geschlechter und dem Empowerment von Frauen gewidmet werden. Die Baha'i International Community beteiligt sich an Beratungen, die die Einrichtung einer autonomen Körperschaft mit einem umfassendem Mandat vorschlagen, das der vollen Bandbreite von Frauenrechten und –belangen gewidmet ist. Diese werden der Pekinger Aktionsplattform, dem Kairoer Arbeitsprogramm und der Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau entnommen, und stellen sicher, dass die Menschenrechtsperspektive vollständig in alle Bereiche der VN-Arbeit integriert ist. Um Frauen eine Stimme auf den höchsten Entscheidungsebenen der Vereinten Nationen zu garantieren, sollte solch eine Körperschaft von einer/m Direktor/in mit dem Status einer/es Untergeneralsekretärin/s geführt werden. Um ihr Mandat effektiv erfüllen zu können, benötigt die Institution eine ausreichende nationale Präsenz sowie unabhängige Frauenrechtsexpert/innen in ihrem Führungsgremium.

Die Bemühungen, die Epidemie der Gewalt gegen Frauen zu beenden, müssen auf allen Ebenen der Gesellschaft stattfinden und gestärkt werden – vom Individuum bis zur internationalen Gemeinschaft. Jedoch sollten diese Bemühungen nicht auf gesetzliche und institutionelle Reformen beschränkt werden, denn diese befassen sich nur mit offenkundigen Straftaten und sind ungeeignet, tiefergehende Veränderungen zu bewirken. Solche Veränderungen sind aber notwendig, um eine Kultur zu schaffen, in der sich Gerechtigkeit und Gleichberechtigung gegenüber der Wucht autoritärer Macht und physischer Kraft durchsetzen. In der Tat sind die inneren und äußeren Dimensionen menschlichen Lebens eng miteinander verknüpft – keine kann ohne die andere verbessert werden. Es ist die innere, ethische und moralische Dimension, die jetzt der Transformation bedarf und die letztendlich die sicherste Grundlage für Werte und Verhaltensweisen bieten wird, die den Status von Frauen und Mädchen erhöhen und dadurch den Fortschritt der ganzen Menschheit fördern.

 

Quellenangaben

[1] United Nations General Assembly resolution 48/104 of 20 December 1993. Declaration on the Elimination of Violence Against Women, Article 1. UN Document A/RES/48/104. Deutsche Version: Erklärung über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, www.humanrights.ch/home/upload/pdf/050330_erklarung_gg_gewalt.pdf

[2] United Nations Division for the Advancement of Women (2005). Report of the Expert Group Meeting: Good practices in combating and eliminating violence against women. 17-20 May 2005, Vienna Austria. www.un.org/womenwatch/daw/egm/vaw-gp-2005/docs/FINALREPORT.goodpractices...

[3] ebenda

* Engl.: reservations

Übersetzung: Bahá’í Jugendforum Europa & Bahá'í-Frauen-Forum e.V.

 

Titel der englischen Originalausgabe:

Beyond Legal Reforms: Culture and Capacity in the Eradication of Violence Against Women and Girls

 

Auf der Suche nach Werten in Zeiten des Übergangs

Auf der Suche nach Werten in Zeiten des Übergangs

New York—2 October 2005

I.

Im Jahr 1945 gab die Gründung der Vereinten Nationen einer kriegsmüden Welt eine Vision über das, was in der Arena der internationalen Zusammenarbeit erreicht werden kann. Die Vereinten Nationen setzten einen neuen Maßstab, der die unterschiedlichen Völker und Nationen zu einer friedlichen Koexistenz führen sollte. Vor dem Hintergrund des verhängnisvollsten Krieges in der Geschichte der Menschheit war die Schaffung einer Weltorganisation für den Schutz der Würde, der Gleichberechtigung und der Sicherheit aller Völker und Nationen eine außerordentliche Meisterleistung der Staatskunst. Sechzig Jahre später stellen sich die Fragen, die die Konferenz von San Francisco beschäftigt haben, erneut: Warum sind die derzeitigen Regierungssysteme daran gescheitert, für die Sicherheit, den Wohlstand und das Wohlergehen der Völker der Welt zu sorgen? Welche Verantwortung tragen Nationen gegenüber ihren Nachbarstaaten und ihren Bürgerinnen und Bürgern? Welche grundlegenden Werte sollten die Beziehungen zwischen und innerhalb der Nationen prägen, um eine friedliche Zukunft sicherzustellen?

Bei dem gemeinsamen Bemühen, Antworten auf diese Fragen zu finden, greift ein neues Paradigma – nämlich jenes, das unsere Herausforderungen und unsere Erfolge im Wesentlichen als miteinander verbunden betrachtet. Ob es sich um Armut, die Proliferation von Waffen, die Rolle der Frau, AIDS, Welthandel, Religion, nachhaltigen Umweltschutz, das Wohlergehen der Kinder, Korruption oder die Rechte von Minderheiten handelt – es liegt auf der Hand, dass keines dieser Probleme, denen die Menschheit sich gegenübergestellt sieht, angemessen angegangen werden kann, wenn es von den anderen isoliert betrachtet wird. Die Bedeutungslosigkeit von nationalen Grenzen angesichts der weltweiten Krisen hat zweifellos gezeigt, dass die Gemeinschaft der Menschheit ein organisches Ganzes ist[i] Die praktischen Folgen dieses hervortretenden Paradigmas auf die Reform der Vereinten Nationen stehen im Mittelpunkt dieses Beitrags der Internationalen Baha'i-Gemeinde aus Anlass des sechzigsten Jahrestages dieser erhabenen Körperschaft[ii]

Die Neugestaltung der Vereinten Nationen muss als Teil einer umfassenderen, evolutionären Entwicklung verstanden werden, die mit frühen Formen internationaler Zusammenarbeit wie dem Völkerbund beginnt und zu einem zunehmenden Grad an Kohärenz bei der Regelung der Menschheitsthemen führt. Gefördert wurde diese Entwicklung durch die Schaffung der Vereinten Nationen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das wachsende Völkerrecht, die Bildung und Integration neuer unabhängiger Staaten und die Mechanismen für regionale und weltweite Zusammenarbeit. Allein in den letzten fünfzehn Jahren wurden die Welthandelsorganisation, der Internationale Strafgerichtshof und die Afrikanische Union gegründet. Zudem kam es zu einer bedeutenden Erweiterung der Europäischen Union, einer weltweiten Zusammenarbeit bei Kampagnen der Zivilgesellschaft und der Formulierung der Milleniumsentwicklungsziele — eines nie da gewesenen Rahmenwerks für globale Entwicklung mit dem Ziel, Armut weltweit auszurotten. Im Verlaufe dieser Entwicklungen ist die Definition staatlicher Souveränität — ein Eckstein des modernen Systems internationaler Beziehungen und ein grundlegendes Prinzip der Charta der Vereinten Nationen — als Gegenstand einer lebhaften Debatte ins Blickfeld geraten: Wo sind die Grenzen der traditionellen Vorstellung von Souveränität? Welche Verantwortung tragen Staaten gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern sowie untereinander? Wie soll das Wahrnehmen dieser Verantwortung forciert werden? [iii] Obwohl begleitet von Unwägbarkeiten und Hindernissen, zeugen die neuen Organisationen, Bewegungen und Diskurse von einer zunehmenden Dynamik hin zu einem einheitlichen Denken und Handeln in weltweiten Angelegenheiten. Sie bilden eines der bedeutenden Merkmale sozialer Organisation am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends.

Wenn man die rasante Zunahme der Mechanismen und Foren der Zusammenarbeit berücksichtigt, warum ist die Welt dann in sich so tief gespalten? Warum dieses allgemeine Elend, das den Beziehungen zwischen den Angehörigen der verschiedenen Kulturen, Bekenntnisse, Religionen, politischen Zusammenschlüsse, Einkommensgruppen und Geschlechter zusetzt? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir nüchtern die rechtlichen Standards, politischen und ökonomischen Theorien, Werte und religiösen Denkweisen untersuchen, die aufgehört haben, das Wohlergehen der Menschen zu fördern. Die Förderung der Männer und Jungen auf Kosten von Frauen und Mädchen hat das kreative und materielle Leistungsvermögen für Entwicklung und Problemlösung von Gemeinschaften stark eingeschränkt. Die Missachtung kultureller und religiöser Minderheiten hat althergebrachte Vorurteile verstärkt, die Völker und Nationen gegeneinander aufbringen; ein ungezügelter Nationalismus hat die Rechte und Chancen von Bürgern anderer Nationen mit Füßen getreten; in schwachen Staaten sind Konflikte, Rechtlosigkeit und massive Flüchtlingsströme ausgebrochen; engstirnige Wirtschaftsprogramme, die materielles Streben verherrlichen, haben häufig die für den gerechten und wohltätigen Gebrauch des Wohlstands nötige moralische und soziale Entwicklung erstickt. Solche Krisen haben die Grenzen eines traditionellen Verständnisses für Regierungshandeln bloßgelegt und die Vereinten Nationen mit der unausweichlichen Frage nach Werten konfrontiert: Welche Werte sind in der Lage, die Nationen und Völker der Welt aus dem Chaos widerstreitender Interessen und Ideologien zu führen – hin zu einer Weltgemeinschaft, die in der Lage ist, die Grundsätze von Gerechtigkeit und Gleichheit auf allen Ebenen der menschlichen Gesellschaft einzuprägen?

Da die Frage nach Werten in internationalen Beziehungen und deren unauflösliche Verbindung mit religiösen Glaubenssystemen auf die Weltbühne getreten ist, können die Vereinten Nationen es sich nicht leisten, diese zu ignorieren. Obgleich die Generalversammlung eine Reihe von Resolutionen verabschiedet hat, die sich mit der Rolle der Religion bei der Förderung des Friedens beschäftigen und zur Beseitigung religiöser Intoleranz aufrufen[iv], ringt sie dennoch damit, einerseits voll zu erfassen, welche konstruktive Rolle Religionen bei der Errichtung einer friedlichen Weltordnung spielen können, andererseits wie vernichtend die Auswirkungen sind, die religiöser Fanatismus auf die Stabilität und den Fortschritt der Welt haben kann. Eine wachsende Anzahl von Führungspersönlichkeiten und beratenden Institutionen räumen deshalb inzwischen ein, dass diese Überlegungen von der Peripherie ins Zentrum der Debatte gerückt werden müssen. Sie erkennen, dass die volle Wirkung religionsbezogener Variablen[v] auf das Regierungshandeln, auf Diplomatie, Menschenrechte, Entwicklungsfragen, Gerechtigkeitsvorstellungen und kollektive Sicherheit besser verstanden werden muss. [vi] Weder haben die politisch Verantwortlichen noch Akademiker eine derart umfassende Wiederkehr der Religion in der Öffentlichkeit vorhergesehen, geschweige denn, dass aus der Praxis der internationalen Beziehungen geeignete Werkzeuge entwickelt worden sind, um sich der Religion sinnvoll zuwenden zu können. [vii] Unsere ererbten Auffassungen von Religion als einer unbedeutenden und eher hinderlichen Stimme in der Öffentlichkeit bieten keine Hilfe bei der Lösung der komplexen Probleme, denen sich die Führer der Nationen der Welt gegenübersehen. Tatsächlich ist die angemessene Rolle der Religion in der Öffentlichkeit eine der drängendsten Angelegenheiten unserer Zeit.

Dass Religionen manipuliert und für das Erreichen engstirniger Ziele benutzt wurden, kann nicht bestritten werden. Eine sorgfältige historische Analyse offenbart jedoch, dass die Perioden größten Fortschritts in der Menschheitskultur diejenigen waren, in denen es Glaube und Vernunft erlaubt war, zusammen zu wirken und aus den gesamten Ressourcen der menschlichen Einsicht und Erfahrung zu schöpfen. So blühten zum Beispiel während der Hochphase der muslimischen Kultur Wissenschaft, Philosophie und Künste auf; eine lebensprühende Lernkultur trieb die menschliche Vorstellung zu neuen Höhen und lieferte unter anderem die mathematische Grundlage für viele der heutigen technologischen Innovationen. Unter den verschiedenartigen Kulturen der Menschheit hat die Religion das Rahmenwerk der Moralkodexe und Rechtsnormen bereitgestellt, das in weiten Regionen brutale und oft anarchische Systeme in kultiviertere Regierungsformen gewandelt hat. Die derzeitige öffentliche Debatte über Religion wurde allerdings von den Stimmen und Taten der Extremisten auf beiden Seiten vorangetrieben — derjenigen, die ihre religiösen Ideologien mit Gewalt aufdrängen und deren sichtbarste Erscheinungsform der Terrorismus ist, und derjenigen, die jeglichen öffentlichen Ausdruck von religiösem Glauben ablehnen. Keines dieser Extreme repräsentiert indessen die Mehrheit der Menschheit und keines fördert einen dauerhaften Frieden.

An diesem Punkt unserer Evolution als globale Gemeinschaft ist die Suche nach gemeinsamen Werten jenseits des Zusammenpralls von Extremen ausschlaggebend für effektives Handeln. Eine Betrachtungsweise unter rein materiellen Gesichtspunkten wird nicht richtig wertschätzen können, in welchem Maße religiöse, ideologische und kulturelle Einflüsse der Diplomatie und Entscheidungsfindung Gestalt geben. Bei dem Versuch, über eine Gemeinschaft von Völkern, die in erster Linie durch Wirtschaftsbeziehungen miteinander verbunden sind, hinaus zu wachsen zu einer Gemeinschaft, die die gegenseitige Verantwortung für Wohlstand und Sicherheit miteinander teilt, muss die Frage der Werte einen zentralen Platz in den Überlegungen einnehmen und klar und deutlich ausgesprochen und offensichtlich gemacht werden. Obwohl die Vereinten Nationen die Notwendigkeit des Multilateralismus wiederholt betont haben, werden solche Bemühungen allein, auch wenn sie ein Schritt in die richtige Richtung sind, keine tragfähige Basis für den Aufbau einer Völkergemeinschaft bilden; bloße Zusammenarbeit verleiht noch keine Legitimation und stellt auch keine guten Ergebnisse für das große Ganze sicher. Um die Versprechen der Charta der Vereinten Nationen, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und nachgeordneter Verträge und Resolutionen zu erfüllen, können wir nicht länger mit einer passiven Toleranz gegenüber unseren gegenseitigen Weltanschauungen zufrieden sein; es bedarf einer aktiven Suche nach jenen gemeinsamen Werten und ethischen Prinzipien, die die Lebensumstände jeder Frau, jedes Mannes und jedes Kindes verbessern werden, ungeachtet der Rasse, Klasse, Religion oder politischen Auffassung.

Wir stellen fest, dass die sich herausbildende neue Weltordnung und der sie bestimmende Prozess der Globalisierung auf dem Prinzip der Einheit der Menschheit gegründet sein müssen. Wenn dieses Prinzip als gemeinsames Verständnis akzeptiert und bekräftigt wird, liefert es eine praktikable Grundlage für die Organisation der Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern. Der zunehmend sichtbar werdende Zusammenhang zwischen Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten auf globaler Ebene bestätigt, dass Frieden und Wohlstand untrennbar miteinander verbunden sind, dass keiner Nation oder Gemeinschaft ein nachhaltiger Vorteil zuteil werden kann, wenn die Wohlfahrt der Nationen insgesamt ignoriert oder vernachlässigt wird. Mit dem Prinzip der Einheit der Menschheit geht nicht das Bestreben einher, die nationale Autonomie zu untergraben oder die kulturelle und intellektuelle Vielfalt der Völker und Nationen der Welt zu unterdrücken. Vielmehr geht es darum, die Basis der bestehenden Grundlagen der Gesellschaft zu verbreitern, indem es zu einer weiter gefassten Loyalität aufruft – ein Bestreben, das größer ist als jedes andere, das das Menschengeschlecht je beseelt hat. Tatsächlich liefert es die moralische Schwungkraft, die benötigt wird, um die Institutionen und Instrumente des Regierungshandels in einer Art und Weise zu gestalten, die den Bedürfnissen einer sich ständig verändernden Welt gerecht werden.

Aus den Lehren der Baha'i-Religion bieten wir die folgende Vision an, für deren Umsetzung sich die Mitglieder der weltweiten Baha'i-Gemeinde in 191 Ländern engagieren:

„Eine Weltgemeinschaft, in der alle wirtschaftlichen Schranken für immer niedergerissen werden, in der die gegenseitige Abhängigkeit von Kapital und Arbeit ausdrücklich anerkannt wird, in der das Geschrei religiösen Eifers und Streites endgültig verstummt ist, in der die Flamme des Rassenhasses ein für allemal gelöscht ist, deren einheitliches System internationalen Rechts als Ergebnis der wohl überlegten Entscheidung der weltweit vereinigten Volksvertreter durch das sofortige, zwingende Eingreifen der vereinten Streitkräfte der Verbündeten sanktioniert wird; und schließlich: eine Weltgemeinschaft, in der der Sturm eines tollkühn-militanten Nationalismus in ein dauerhaftes Bewusstsein des Weltbürgertums verwandelt ist ...“ [viii]

II.

Im Lichte der vorhergehenden Analyse und der Themen, die zurzeit von den Vereinten Nationen erwogen werden, empfehlen wir die folgenden, konkreten Schritte in Richtung eines gerechteren und effektiveren Systems der Vereinten Nationen. Unsere Empfehlungen betreffen Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Entwicklungsfragen, Demokratie und kollektive Sicherheit.

Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit

Es kann keine effektive und friedliche internationale Ordnung errichtet und erhalten werden, wenn sie nicht fest auf den Prinzipien von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit gegründet ist. Das Festhalten an solchen Prinzipien liefert die erforderliche Stabilität und Legitimität, um die Unterstützung der Völker und Nationen zu gewinnen, denen das System dienen soll. Wir möchten Folgendes empfehlen:

Die schwerwiegenden Bedrohungen durch religiösen Extremismus, Intoleranz und Diskriminierung machen es erforderlich, dass die Vereinten Nationen diese Fragen offen und ernsthaft angehen. Wir rufen die Vereinten Nationen dazu auf, das Recht des Einzelnen, seine Religion gemäß internationalem Recht wechseln zu können, eindeutig zu bestätigen. Die Generalversammlung soll den Internationalen Gerichtshof dazu auffordern, gemäß Artikel 96 der Charta der Vereinten Nationen ein Rechtsgutachten zur Frage der Freiheit von Religion und Glaube herauszugeben. Insbesondere könnte man den Gerichtshof danach fragen, ob das Prinzip der Religions- und Glaubensfreiheit den Status des internationalen Gewohnheitsrechts jus cogens erreicht hat, oder ob es lediglich der Interpretation jedes einzelnen Staates überlassen ist. Eine solche Klarstellung würde dabei helfen, falsche Interpretationen dieses Rechts zu beseitigen und der Verurteilung von Vorgehensweisen und Praktiken moralisch Nachdruck verleihen, die das Prinzip der Nicht-Diskriminierung in Religions- und Glaubensangelegenheiten verletzen. [ix]

Über die derzeitigen Reformen der Struktur und Arbeitsweise des Menschenrechtsschutzsystems der Vereinten Nationen hinaus muss die Legitimität dieses Systems durch konsequentes Festhalten an den höchsten Prinzipien von Gerechtigkeit – einschließlich derjenigen, die in der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ausgeführt sind – wiederhergestellt werden. Nur so wird das Vertrauen seiner Mitgliedstaaten und deren Bürger sichergestellt werden, die es zur Ausübung seines Mandats benötigt.

Die Generalversammlung sollte darüber nachdenken, einen Zeitplan für die allgemeine Ratifizierung der internationalen Menschenrechts-verträge aufzustellen.

Das Büro der Hochkommissarin für Menschenrechte muss zum Vorkämpfer auf dem Feld der Menschenrechte werden – ausgerüstet mit der erforderlichen Integrität und den intellektuellen und materiellen Ressourcen – und zum effektiven Werkzeug zur Linderung der Leiden Einzelner und Gruppen, deren Rechte verweigert werden.

Als eines der effektivsten Instrumente für den Schutz der Menschenrechte sollten die Special Procedures ein angemessenes Budget und die Unterstützung der Administration bekommen. Die Zusammenarbeit der Regierungen mit den Special Procedures sollte sich nicht auf den Zugang zum jeweiligen Land beschränken. Genauso wichtig ist die vollständige Prüfung der daraus folgenden Empfehlungen. Dies sollte im interaktiven Dialog zwischen den Sonderberichterstattern und den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zum Ausdruck kommen.

Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit im Büro der Hochkommissarin sollte ausgebaut werden, damit Resolutionen der Menschenrechtskommission bzw. des Menschenrechtsrates, Empfehlungen der Special Procedures und die abschließenden Bemerkungen der Ausschüsse, die die Einhaltung der Übereinkommen, Pakte und Konventionen überwachen, mehr Beachtung in den Medien geschenkt wird. Dies könnte zum Beispiel die Übersetzung von Dokumenten in die wichtigsten Landessprachen einschließen, um mehr Öffentlichkeit zu erzeugen.

Das Büro der Hochkommissarin sollte zusammen mit dem Menschenrechtsrat seine produktive Zusammenarbeit mit Nicht-Regierungsorganisationen fortsetzen. Diese hat von Anfang an einen positiven Beitrag geleistet — sowohl für die Arbeit des Büros als auch für die Entwicklung der Fähigkeiten von Nicht-Regierungsorganisationen zur sinnvollen Zusammenarbeit in diesem Kontext.

Entwicklungsfragen

Im Zentrum menschlicher Entwicklung muss das Verständnis stehen, dass Menschen einzigartige Ressourcen sind in einem sich selbst tragenden Prozess der Veränderung. Die Herausforderung besteht darin, Methoden zu finden, die ihnen erlauben, dieses Potenzial in vollem Umfang zum Ausdruck zu bringen. Entwicklung, die sich entlang gewisser Vorstellungen der „Modernisierung“ definiert, scheint sich jedoch auf genau solche Prozesse zu beziehen, die der Vorherrschaft materieller Interessen über geistige Ziele Vorschub leistet. Während die Suche nach einer wissenschaftlich und technologisch modernen Gesellschaft ein zentrales Ziel menschlicher Entwicklung ist, muss sie ihre ökonomischen, politischen, kulturellen und Bildungsstrukturen auf der Idee der geistigen Natur des menschlichen Wesens gründen und nicht allein auf ihre materiellen Bedürfnisse. Wir möchten Folgendes empfehlen:

Die Fähigkeit von Menschen, an der Schaffung und Anwendung von Wissen teilzuhaben, ist ein wesentlicher Bestandteil menschlicher Entwicklung. Daher muss der Bildung von Mädchen und Jungen, Frauen und Männern Vorrang eingeräumt werden, um sie in die Lage zu versetzen, ihren eigenen Entwicklungsweg festzulegen und ihr Wissen im Dienst an der Gesellschaft anzuwenden. Die Vereinten Nationen sollten im Sinne eines ökonomischen Investments bedenken, dass die Bildung der Mädchen durchaus den größten Ertrag aller in Entwicklungsländern getätigten Investitionen bringen könnte, wenn man sowohl die persönlichen Vorteile als auch den Nutzen für die Familienmitglieder und die Gesellschaft berücksichtigt. [x]

Wir legen den Vereinten Nationen fünf geistige Prinzipien zur Erwägung vor, die als Grundlage für die Formulierung von Indikatoren für menschliche Entwicklung dienen und neben den bestehenden Maßnahmen der Entwicklungspolitik genutzt werden könnten. Diese Prinzipien umfassen: Einheit in Vielfalt, Gerechtigkeit, Gleichwertigkeit der Geschlechter, Vertrauenswürdigkeit und eine an Werte orientierte Führung, sowie die Freiheit des Gewissens, der Gedanken und der Religion. [xi]

Die reichen Länder der Welt haben die moralische Pflicht, Maßnahmen abzubauen, die die Export- und Handelsbedingungen verzerren und Länder aussperren, die um die Teilnahme am globalen Markt kämpfen. Der Konsens von Monterrey, der die Bedeutung eines „offeneren, auf Regeln basierenden, nicht-diskriminierenden und gerechten“ Handelssystems anerkennt, ist ein Schritt in die richtige Richtung. [xii]

Neben der Reform des Handelssystems müssen die Länder den grenzüberschreitenden Austausch von Arbeitskräften erleichtern und die entmenschlichenden Auswirkungen des Menschenhandels angehen, die zu weit verbreiteter wirtschaftlicher und sexueller Ausbeutung von Menschen führt, die nach einem besseren Leben streben.

Demokratie

Wir loben die internationale Staatengemeinschaft für ihre Verpflichtung auf Demokratie und einer frei gewählten Regierung als universalen Wert. Allerdings muss der Standard für die Überlegungen und die Suche nach Wahrheit, der bei der Realisierung der von den Vereinten Nationen gesetzten Ziele benötigt wird, weit über die üblichen Muster von Parteilichkeit, Protest und Kompromissen hinausgehen, die die heutigen Diskussionen der menschlichen Angelegenheiten üblicherweise kennzeichnen. Es wird ein Beratungsprozess auf allen Regierungsebenen benötigt, bei dem die einzelnen Teilnehmer danach streben, sich über ihre jeweiligen Standpunkte hinaus zu erheben, um als Mitglieder einer Körperschaft zu arbeiten, die ihre eigenen Interessen und Ziele hat. Durch Partizipation und Einheit in den Absichten wird Beratung zum tätigen Ausdruck der Gerechtigkeit in menschlichen Angelegenheiten. Ohne diesen Anker als Grundlage fällt die Demokratie den Exzessen des Individualismus und Nationalismus, die sowohl national als auch global am Gefüge der Gesellschaft zerren, zum Opfer.

Über die Regelung materieller Angelegenheiten hinaus ist Staatsführung in erster Linie eine Übung der Moral. Es ist der Ausdruck einer Treuhänderschaft — einer Verantwortung, die Mitglieder einer verfassten Gesellschaft zu schützen und ihnen zu dienen. Tatsächlich wird die Verwirklichung der Demokratie in dem Maße erfolgreich sein, wie sie von moralischen Prinzipien geleitet wird, die im Einklang mit den sich herausbildenden Interessen einer schnell reifenden Menschheit stehen. Diese umfassen die Vertrauenswürdigkeit und Integrität, die benötigt wird, um den Respekt und die Unterstützung der Regierten zu gewinnen; Transparenz; Beratung mit den von Entscheidungen Betroffenen; objektive Feststellung der Bedürfnisse und Bestrebungen der betroffenen Gemeinden; und der angemessene Gebrauch wissenschaftlicher und moralischer Ressourcen. [xiii] Wir möchten Folgendes empfehlen:

Um die Legitimität, Zuversicht und Unterstützung sicherzustellen, die die Organisation der Vereinten Nationen für die Realisierung ihrer Ziele benötigt, muss sie sich den demokratischen Defiziten in ihren eigenen Organen und Beratungen zuwenden.

Eine eingehende Beratung der drängenden Probleme unserer Zeit erfordert es, dass die Organisation der Vereinten Nationen Verfahrensweisen entwickelt, um Organisationen der Zivilgesellschaft, einschließlich wirtschaftliche und religiöse Organisationen, ebenso konstruktiv und systematisch einzubinden, wie die Mitglieder nationaler Parlamente. Das Verhältnis zwischen Organisationen der Zivilgesellschaft, Parlamentariern und traditionellen diplomatischen Prozessen der Vereinten Nationen sollte kein Wettbewerb sein, sondern sie sollen sich vielmehr gegenseitig ergänzen. Dieses Verhältnis soll auf der Erkenntnis gründen, dass die relativen Stärken aller drei Komponenten für eine effektive Entscheidungsfindung und die spätere Umsetzung dieser Entscheidungen benötigt wird. [xiv] Wir drängen die Vereinten Nationen dazu, den im Bericht des Panel of Eminent Persons gemachten Vorschlägen hinsichtlich der Beziehungen der UNO zur Zivilgesellschaft[xv] ernsthaft Beachtung zu schenken.

Eine gesunde Demokratie muss sich auf dem Prinzip der Gleichheit von Mann und Frau und der gleich großen Anerkennung ihres jeweiligen Beitrags zur Errichtung einer gerechten Gesellschaft gründen. Bei ihren Bemühungen zur Förderung der Demokratie müssen die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen in ihren jeweiligen Ländern wachsam auf die Einbeziehung von Frauen in allen Facetten der Regierungsarbeit hinwirken. Dies ist kein Privileg, sondern eine praktische Notwendigkeit zur Erreichung der hochgesteckten und komplexen Ziele, die noch von den Vereinten Nationen zu erreichen sind.

Die besondere Berücksichtigung von Minderheiten in demokratischen Prozessen ist von entscheidender Bedeutung — sowohl um Minderheiten vor den Misshandlungen der Vergangenheit zu schützen, als auch, um sie zur Teilhabe und zur Übernahme von Verantwortung für das Wohlergehen der Gesellschaft zu ermutigen. Wir drängen die Mitgliedsstaaten, bei ihrer Arbeit für die Förderung der Demokratie danach zu streben, die Minderheiten — Angehörige aller Glaubensrichtungen, Rassen oder Klassen — in den Prozess der Zielsetzung und der Beratung vollständig einzubeziehen. Da die kulturelle Zusammensetzung von Staaten immer veränderlicher und vielfältiger wird, kann keine kulturelle oder religiöse Gruppe für sich beanspruchen, nationale Interessen angemessen zu definieren.

Kollektive Sicherheit

Wir begrüßen die Bemühungen der Vereinten Nationen, eine umfassendere Vision kollektiver Sicherheit zu formulieren. Sie beruht auf dem Verständnis, dass in unserer miteinander verflochtenen Welt die Bedrohung eines Mitglieds eine Bedrohung für alle darstellt. Die Baha'i-Religion stellt sich ein System kollektiver Sicherheit im Rahmen einer globalen bundesstaatlichen Staatsordnung vor, eines Staatenbundes, in dem nationale Grenzen abschließend festgelegt wurden und zu dessen Gunsten alle Nationen der Welt freiwillig ihr Recht auf Bewaffnung – außer zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung – abgetreten haben. [xvi] Während wir uns der schwerwiegenden Mängel des gegenwärtigen Systems kollektiver Sicherheit bewusst sind, beglückwünschen wir den Sicherheitsrat für seine Resolution über „Frauen, Frieden und Sicherheit“ [xvii], die einen Meilenstein darstellt, weil sie zum ersten Mal in der Geschichte die Bedürfnisse von Frauen und Mädchen in Kriegs- und Nachkriegssituationen[xviii] und ihre Rolle bei der Förderung des Friedens anerkennt. Wir möchten Folgendes empfehlen:

Um die demokratischen Defizite und die unerbittliche Politisierung des Sicherheitsrats anzugehen, müssen die Vereinten Nationen rechtzeitig Maßnahmen ergreifen, um letztendlich die Einrichtungen der ständigen Sitze und des Vetorechts zu beseitigen. [xix] Neben den Verfahrensreformen bedarf es eines entscheidenden Wandels in der Einstellung und im Verhalten. Die Mitgliedstaaten müssen anerkennen, dass sie, wenn sie einen Sitz im Sicherheitsrat einnehmen, als Unterzeichner der Charta der Vereinten Nationen gewichtige moralische und rechtliche Verpflichtungen haben, als Treuhänder für die gesamte Völkergemeinschaft handeln und nicht als Anwälte nationaler Interessen. [xx]

Es muss eine Definition über Terrorismus angenommen werden. Wir stimmen dem Generalsekretär zu, wenn er Terrorismus als jede Handlung bezeichnet, „die beabsichtigt, Tod oder schwere Körperverletzung an Zivilisten und Nichtkombatanten zu verursachen, in der Absicht, eine Bevölkerung einzuschüchtern oder eine Regierung oder eine internationale Organisation zu nötigen, eine Handlung auszuführen oder zu unterlassen.“ Darüber hinaus ist es unbedingt erforderlich, dass Probleme wie Terrorismus beständig im Kontext anderer Fragen angegangen werden, die die Gesellschaft spalten oder destabilisieren. [xxi]

Wir drängen die Vereinten Nationen dazu, die nötigen Schritte zu unternehmen, um Frauen auf allen Ebenen – lokal, national, international – und auch im Department of Peacekeeping Operations an der Entscheidungsfindung bei Konfliktlösungen und Friedens-prozessen teilhaben zu lassen. [xxii]

Wir glauben, dass die Aufgabe, eine friedliche Welt zu schaffen, jetzt in den Händen der Führer der Nationen liegt, aufgrund der enormen Verantwortung, die ihnen anvertraut worden ist. Jetzt liegt vor ihnen die Herausforderung, das Vertrauen und die Zuversicht ihrer Bürger in sich selbst, ihre Regierungen und die Institutionen der internationalen Ordnung wiederherzustellen – durch persönliche Integrität, aufrichtige Absichten, der konsequenten Verpflichtung auf die höchsten Maßstäbe der Gerechtigkeit und durch das zwingende Gebot einer Welt, die nach Einheit hungert. Der große Friede, den die Völker und Nationen der Welt seit langer Zeit erwartet haben, liegt deutlich in Reichweite.

 

[i] Während die Vereinten Nationen begonnen haben, die Wechselwirkung von Menschenrechten, Entwicklungsfragen und kollektiver Sicherheit formal anzuerkennen, zog sich diese holistische Perspektive durch alle Beiträge der Nichtregierungsorganisationen für die Organisation der Vereinten Nationen, so zum Beispiel bei den weltweiten Konferenzen der Vereinten Nationen wie der Konferenz für Umwelt und Entwicklung (1992), der Weltkonferenz für Menschenrechte (1993), der Weltkonferenz für Bevölkerungsentwicklung (1994), der vierten Weltfrauenkonferenz (1995), dem Weltgipfel für soziale Entwicklung (1995) und der Konferenz der Vereinten Nationen für Wohn- und Siedlungswesen (1996)

[ii] Die Internationale Baha'i-Gemeinde ist als Nichtregierungsorganisation seit der Gründungskonferenz im Jahr 1945 aktiv mit den Vereinten Nationen verbunden. Bereits aus Anlass des zehnten Jahrestages der Vereinten Nationen hatte die Internationale Baha'i-Gemeinde Vorschläge für eine Überarbeitung der UN-Charta an den Generalsekretär übermittelt. Die Vorschläge zur Reform fußten auf der Erkenntnis, dass „wahre Souveränität nicht länger den nationalstaatlichen Institutionen übertragen ist, denn die Nationen befinden sich nun in gegenseitiger Abhängigkeit; dass die gegenwärtige Krise sowohl moralisch und geistig als auch politisch ist; dass die gegenwärtige Krise nur durch die Schaffung einer Weltordnung überwunden werden kann, die sowohl alle Völker wie auch alle Nationen der Menschheit repräsentiert.“ (Internationale Baha'i-Gemeinde, „Proposals for Charter Revision Submitted to the United Nations by the Baha'i International Community [1955]“, The Baha'i-World 1954 – 1963, Vail–Ballou Press, Inc., Binghampton, New York, 1970). Im Jahr 1995 gab die Internationale Baha'i-Gemeinde zum fünfzigsten Jahrestag der Vereinten Nationen eine Stellungnahme heraus, die die Entwicklung einer ständig zunehmenden gegenseitigen Abhängigkeit der Menschheit hervorhob und Vorschläge zur Neubelebung der Generalversammlung, zum Ausbau der Exekutive, zur Stärkung des Internationalen Strafgerichtshofes, und zur Förderung der wirtschaftlichen und moralischen Entwicklung, der Menschenrechte und den Fortschritt der Frauen präsentierte (Internationale Baha'i-Gemeinde, Wendezeit für die Nationen, Büro für Öffentlichkeitsarbeit der Internationalen Baha'i-Gemeinde, Baha'i-Verlag, Hofheim 1996). Während der gesamten Geschichte ihrer Beziehung zu den Vereinten Nationen hat die Internationale Baha'i-Gemeinde ihre Visionen und Erfahrungen in Form von Stellungnahmen mitgeteilt, in denen es unter anderem um die Förderung der Frauen sowie um Menschenrechte, nachhaltigen Umweltschutz, globalen Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung ging.

[iii] Im Jahre 2000 hat die kanadische Regierung als Antwort auf das erschreckende Versagen der internationalen Staatengemeinschaft, in schwerwiegenden Krisen wie in Somalia, Bosnien, Ruanda und im Kosovo zu intervenieren oder besser: wirksam zu intervenieren, eine Kommission einberufen, die sich Fragen der rechtlichen, ethischen, technischen und politischen Dimensionen humanitärer Interventionen widmet. Die daraus entstandene International Commission on Intervention and State Sovereignty hat ihre Ergebnisse im Jahr 2001 in einem Bericht mit dem Titel Responsibility to Protect veröffentlicht. Das wiederholte Scheitern einer wirksamen Intervention der internationalen Staatengemeinschaft in Darfur (Sudan) hat einer Definition rechtlicher Standards und technischer Normen für humanitäre Interventionen sogar noch mehr Dringlichkeit verliehen.

[iv] Zum Beispiel "Promotion of interreligious dialogue" (A/RES/59/23), "Promotion of religious and cultural understanding, harmony and cooperation" (A/RES/59/142), "Global Agenda for Dialogue Among Civilizations" (A/RES/56/6), "Elimination of all forms of religious intolerance" (A/RES/59/199) sowie der Bericht des UNESCO-Generaldirektors an die 59. Sitzung der UN-Generalversammlung (A/59/201) "Promotion of religious and cultural understanding, harmony and cooperation" (A/RES/58/128).

[v] Dies sind unter anderem religiöse Lehren und ihre Interpretationen, die Anhänger von Religionen, ihre religiösen Führer und Institutionen.

[vi] Eine detaillierte Beschreibung würde über den Rahmen dieser Darstellung hinausreichen, jedoch können als Beispiele für das Wiederaufleben der Religion als Angelegenheit höchster politischer Dringlichkeit angefügt werden: die weite Verbreitung von Gewalt im Namen der Religion; die Ausbreitung von religiösem Fundamentalismus und seine Auswirkungen auf die politischen Systeme; die zunehmenden Spannungen zwischen Religionen und den Politikinhalten eines Staates; die Herausforderungen beim Gestalten nationaler und regionaler Regierungsstrukturen, die in der Lage sind, den Forderungen nach fairer Repräsentation der verschiedenen Religionsgemeinschaften entgegen zu kommen; die soziale, politische und wirtschaftliche Integration von religiösen Minderheiten; Unvereinbarkeiten zwischen religiösem Recht und Zivilrecht; der Einfluss der Religion auf internationale Politikforen – zum Beispiel auf die Internationale Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung in Kairo, 1994, oder die Vierte Weltfrauenkonferenz in Peking, 1995 –; und schließlich die Verletzung von Menschenrechten im Namen der Religion, einschließlich des Rechts, die Religion zu wechseln. Solchen Entwicklungen stehen die zunehmenden Bemühungen um einen interreligiösen Dialog und die Zusammenarbeit zwischen den religiösen Führern und ihren Gemeinden gegenüber, die beeindruckenden globalen Netzwerke religiös inspirierter humanitärer und wohltätiger Organisationen und Bewegungen, die die Aufmerksamkeit auf die ethischen Dimensionen globaler wirtschaftlicher Integration lenken, das intellektuelle und moralische Vermächtnis in der Artikulation moralischer Prinzipien (wie zum Beispiel die Ethik des „gerechten Krieges“) sowie die Fähigkeit von Religionen, Einzelne und Gruppen zu Selbstlosigkeit, Gewaltlosigkeit und Versöhnung zu motivieren.

[vii] Mehrere Faktoren haben zur fast völligen Ausklammerung der Religion in den Theorien internationaler Beziehungen geführt. Erstens basierten die Sozialwissenschaften auf Werken, deren Autoren glaubten, dass Religion vernunftmäßigen und wissenschaftlichen Denkweisen Platz machen würde, um so die ihrer Ansicht nach durch sie verursachte Unwissenheit und Aberglauben auszumerzen und so in eine Periode der Modernität überzuleiten. Zweitens „war nicht nur die Theorie internationaler Beziehungen (so wie andere Sozialwissenschaften) auf dem Glauben gegründet, dass Religion als wichtiger Faktor aus der Welt verschwindet. Man kann sagen, dass der moderne Kontext für die Beziehungen zwischen Staaten auf bewusst säkularen Prinzipien beruhte. Die moderne Idee vom Territorialstaat – die Grundlage moderner internationaler Beziehungen – wurde 1648 im Westfälischen Frieden zum Ausdruck gebracht“, der „dazu bestimmt war, den Dreißigjährigen Krieg zwischen protestantischen und katholischen Staaten zu beenden. Dabei entwickelte er eine Ausrichtung für zwischenstaatliche Beziehungen, bei der Religion keine Rolle spielte.“ (Jonathan Fox und Shmuel Sandler (2005), „The Question of Religion and Politics“, Terrorism and Political Violence, 17:296-298).

[viii] Shoghi Effendi, „Das Ziel: die neue Weltordnung“ (1931), Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, 3:7

[ix] Internationale Baha'i-Gemeinde, Freedom to Believe (Vertretung der Internationalen Baha'i-Gemeinde bei den Vereinten Nationen, New York 2005)

[x] Abgesehen davon, dass sie auf dem Arbeitsmarkt produktiver sind, haben gebildete Frauen nach Aussagen der Weltbank kleinere Familien, ihre Kinder sterben weniger häufig im frühen Kindesalter und die überlebenden Kinder sind gesünder und besser ausgebildet. Gebildete Frauen sind darüber hinaus besser gerüstet, eine bezahlte Arbeit aufzunehmen, was für das Überleben vieler Haushalte mit weiblichem Familienvorstand in Entwicklungsländern wesentlich ist. In Ländern mit höherem Mädchenanteil unter Schülern zeigt sich eine höhere wirtschaftliche Produktivität, eine niedrigere Fruchtbarkeit, eine niedrigere Kinder- und Müttersterblichkeit und eine höhere Lebenserwartung als in Ländern, die keinen hohen Mädchenanteil an Schulen haben. (Weltbank, The Benefits of Education for Women (1993), URL: http://www.worldbank.org/html/extdr/hnp/hddflash/hcnote/hrn002.html)

[xi] Ausführlich wird dieser Gesichtspunkt erörtert in: Internationale Baha'i-Gemeinde, Valuing Spirituality in Development: Initial Considerations Regarding the Creation of Spirituality Based Indicators for Development, ein Konzeptpapier, das erstellt wurde für: World Faiths Development Dialogue, Lambeth Palace, London (The Baha'i Publishing Trust: London 1998)

[xii] The Monterrey Consensus, (A/CONF.198/11)

[xiii] In den 80er und 90er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gab es in der Welt dramatische Fortschritte bei der Öffnung politischer Systeme und der sich ausbreitenden politischen Freiheit. Mehr als achtzig Staaten unternahmen bedeutsame Schritte in Richtung Demokratie. Heute gibt es in 140 der fast 200 Staaten der Welt Wahlen und Mehrparteiensysteme, mehr als je zuvor. Ungeachtet dieser positiven Entwicklungen hat das Gallup International’s Millenium Survey 1999 herausgefunden, dass von 50.000 befragten Menschen in 60 Staaten weniger als ein Drittel das Gefühl hatten, ihr Land werde vom Willen des Volkes regiert. Nur einer von zehn Befragten sagte, dass die Regierung auf den Willen des Volkes eingehe.

[xiv] Während der vergangenen fünf Jahre hat die Organisation der Vereinten Nationen zahlreiche Beispiele für innovatives Regieren hervorgebracht: Im Jahr 2000 richtete der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC) ein ständiges Forum über indigene Angelegenheiten ein, um als beratende Körperschaft für den Rat für indigene Angelegenheiten zu dienen, der mit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung, Kultur, Umweltschutz, Gesundheit und Menschenrechten zu tun hat, wodurch der jahrzehntelange Kampf indigener Völker, eine gewisse Stellung innerhalb der Weltgemeinschaft zu erreichen, seinen Höhepunkt erreichte; im Juni 2005 veranstaltete die Generalversammlung erstmalig interaktive Anhörungen mit der Zivilgesellschaft und dem privaten Sektor, bei denen etwa 200 Nicht-Regierungsorganisationen ihre Ansichten über die Reform der Vereinten Nationen als Denkanstoß für die Mitgliedstaaten in Vorbereitung des Weltgipfels der Vereinten Nationen 2005 präsentierten; ebenfalls im Juni 2005 organisierte eine Vorbereitungsgruppe, zusammengesetzt aus einer Kerngruppe von Mitgliedstaaten (Argentinien, Bangladesh, Ecuador, Gambia, Deutschland, Indonesien, Iran, Kasachstan, Malaysia, Marokko, Pakistan, Philippinen, Senegal, Spanien, Thailand und Tunesien), der Zivilgesellschaft, den Kultur-, Sozial- und Bildungsorganisation der Vereinten Nationen und der Abteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten, eine Konferenz mit dem Namen Interfaith Cooperation for Peace, mit dem Ziel, Eingaben für den Weltgipfel 2005 zu erarbeiten hinsichtlich der Strategien zur Förderung interreligiöser Zusammenarbeit für den Frieden. Es war das erste Mal, dass eine von einem Mitgliedsstaat initiierte Konferenz von Mitgliedstaaten, der Zivilgesellschaft und Organen der Vereinten Nationen zusammen organisiert und geleitet wurde. Wenn man berücksichtigt, wie schwierig das Thema ist, dann liefert diese Art der Organisation ein brauchbares Muster für gleichartige Anstrengungen in der Zukunft. Ebenfalls beachtenswert ist, dass im Jahre 2002 der Internationalen Parlamentarischen Union der Status einer ständigen Beobachterin der Generalversammlung der Vereinten Nationen zuerkannt wurde, was eine neue Form der Zusammenarbeit in Gang setzte.

[xv] Panel of Eminent Persons on UN−Civil Society Relationships, We the Peoples: Civil Society, the UN and Global Governance (United Nations: New York, 2004).

[xvi] Damit dieses föderale System erfolgreich sein kann, sind Einheit, Festigkeit, Flexibilität und eine öffentliche Meinung unabdingbar: Einheit des Denkens und der Absicht unter den ständigen Mitgliedern, Festigkeit, die den Gebrauch von angemessener Gewalt zur Sicherung der Wirksamkeit der Ordnung einschließt, Flexibilität zur Befriedigung der rechtmäßigen Bedürfnisse seiner bedrängten Unterstützer und eine öffentliche Meinung — von Frauen und Männern — um gemeinsames Handeln sicherzustellen.

[xvii] Security Council Resolution 1325 (S/RES/1325 (2000))

[xviii] Üblicherweise haben Kriege und Auseinandersetzungen keine großen Unterschiede zwischen Militärs und Zivilisten oder zwischen Erwachsenen und Kindern gemacht. Bewaffnete Auseinandersetzungen wirken sich auf Frauen und Mädchen aber anders aus als auf Männer und Jungen, zum Beispiel durch verübte Vergewaltigungen und sexuelle Nötigungen von Bewaffneten der Regierung oder anderer Akteure, einschließlich des Personals von Friedensmissionen, sowie durch die Ausbreitung von HIV/AIDS und anderen sexuell übertragenen Krankheiten. Die meisten HIV/AIDS-Opfer in Entwicklungsländern sind Frauen und Mädchen. Diese Krankheit lässt Millionen von Waisenkindern zurück, um die sich meist ältere Frauen kümmern.

[xix] Während das Vetorecht oftmals zum Schutz gegen unterdrückende Mehrheitsansprüche gedient hat, hat es auch oft effektives Handeln gegen Staaten verhindert, die eine Bedrohung für ihre Nachbarn darstellen. Eine Übergangsmaßnahme könnte sein, das Vetorecht nicht auszuüben, wenn es um Angelegenheiten wie Völkermord oder schwere Bedrohungen des internationalen Friedens und der Sicherheit geht.

[xx] In der Charta der Vereinten Nationen heißt es: „Um ein schnelles und wirksames Handeln der Vereinten Nationen zu gewährleisten, übertragen ihre Mitglieder dem Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Wahrung des Friedens und der Sicherheit und erkennen an, dass der Sicherheitsrat bei der Wahrnehmung der sich aus dieser Verantwortung ergebenden Pflichten in ihrem Namen handelt.” (Artikel 24)

[xxi] Bei solchen zerrüttenden, destabilisierenden Faktoren handelt es sich unter anderem um das Unvermögen von Regierungen, religiöse und ethnische Minderheiten effektiv zu integrieren; zunehmend leichterer Zugriff auf Waffen; die Destabilisierung und der Zusammenbruch von Regierungen; und ein allgemeines Gefühl einer sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Krise — alle zusammen erzeugen sie ein Umfeld, das gewalttätige, radikale Ideologien einladen könnte, Platz zu greifen.

[xxii] Dies erfordert die Implementierung des strategischen Aktionsplans des Generalsekretärs (A/49/587), der zu verstärkter Beteiligung von Frauen auf Entscheidungsebene bei Konfliktbewältigung und Friedensprozessen aufruft. Die Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet, dem Plan gemäß internationalem Recht, einschließlich der Resolution 1325 des Sicherheitsrates (2000), zu folgen.

 

Freiheit im Glauben

Freiheit im Glauben

Erklärung der Internationalen Bahá’í-Gemeinde zur Religions- und Glaubensfreiheit

New York—1 October 2005

Einleitung

Vor mehr als 50 Jahren proklamierte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte kühn die angeborene Würde und die gleichen Rechte aller Mitglieder der Menschheitsfamilie. Geleitet von der Vision der allgemeinen Gleichberechtigung, beinhaltet die Erklärung auch das Grundrecht jedes Menschen auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Obgleich die internationale Gemeinschaft die Erklärung einstimmig [i] annahm und sie nachfolgend in einem Instrumentarium internationaler Gesetze kodifizierte, [ii] ist die Welt Zeuge anhaltender auf Religion und Glauben bezogener Intoleranz und Diskriminierung, einer sich ausbreitenden Gewalt im Namen der Religion, der Manipulation von Religion im Interesse politischer Ideologie und zunehmender Spannungen zwischen Religion und staatlicher Politik. [iii] Die ansteigende Flut religiösen Extremismus’ hat diese Entwicklung angeheizt und bedroht die Sicherheit, die menschliche Entwicklung und die Bemühungen um Frieden. Weitverbreitete Verletzungen dieser Rechte, worunter meistenteils Frauen und Minderheiten leiden, dauern an. Angesichts der Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Menschenrechten gefährden solche Verletzungen auch die Rechte auf Bildung, Arbeit, friedliche Versammlungen, Staatsbürgerschaft, politische Teilnahme und Gesundheit sowie gelegentlich auch das Leben selbst. Tatsächlich bleibt die allen zugesicherte Religions- und Glaubensfreiheit weiterhin eines der am meisten umstrittenen und dringendsten Menschenrechte unserer Zeit.

Für die menschliche Entwicklung ist die Freiheit, seine eigene Überzeugung zu wählen und sie zu ändern von entscheidender Bedeutung, denn sie ermöglicht dem Einzelnen die Suche nach Sinn, einem wesentlichen Antrieb des menschlichen Gewissens. Aus diesem Grunde begrüßt die Internationale Bahá’í-Gemeinde die jüngsten Bemühungen der Vereinten Nationen, die kulturelle und religiöse Freiheit in ihren konzeptionellen Rahmen und in die Evaluation der menschlichen Entwicklung mit einzubeziehen. [iv] Von gleicher Bedeutung ist auch die Bekräftigung durch die Vereinten Nationen, dass eine enge Wechselbeziehung zwischen Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten und den grundlegenden Freiheiten besteht. [v] Damit wurden die Voraussetzungen für eine sorgfältige Überprüfung der Rolle geschaffen, welche die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit bei dem Bemühen um eine friedliche, blühende und gerechte Gesellschaft spielen.

Als eine weltweit verbreitete religiöse Gemeinschaft, die das menschliche Gewissen als heilig betrachtet und jedem das Recht auf unabhängige Suche nach Wahrheit zugesteht, fordern wir die Vereinten Nationen dringend auf, vier wichtigen, noch immer vernachlässigten Problemkreisen in Bezug auf Religions- und Glaubensfreiheit Beachtung zu schenken: 1. dem Recht, seine Religion oder seine Überzeugung zu wechseln, 2. dem Recht, seine Glaubenseinstellung anderen mitzuteilen, 3. der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft und nationaler Regierungen gegenüber ausgegrenzten und friedlich organisierten religiösen Gemeinschaften, und 4. die Verpflichtung religiöser Führer, sich für die Förderung und den Schutz des Rechts auf Religions- und Glaubensfreiheit einzusetzen. Wir werden diese Fragenkomplexe im Einzelnen behandeln und daraus Schlüsse für Empfehlungen für die Arbeit der Vereinten Nationen auf diesem Gebiet ziehen.

Das Recht, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln<

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stellt in Artikel 18 eindeutig fest:

„Jeder Mensch hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten zu bekunden.“ [vi]

Das Recht, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, hat den Status eines unveräußerlichen Rechtes – es ist uneingeschränkt geschützt und unterliegt zu keiner Zeit Regierungsverordnungen. [vii] Das besondere Ausmaß des diesem Recht zugestandenen Schutzes kennzeichnet seine Bedeutung, wenn es um die Sicherung der Menschenwürde geht. Die Suche des Einzelnen nach Wahrheit und Sinn ist eng mit dem Gewissen verknüpft und dem Wunsch, die Welt mit eigenen Augen zu sehen und sie mit eigenem Wahrnehmungs- und Auffassungsvermögen zu verstehen. Demnach ist sie untrennbar mit allen Facetten menschlicher Entwicklung verknüpft.

Auf Druck von Staaten mit abweichender Meinung indes haben spätere Verträge der Vereinten Nationen dieses Recht in schwächerer Form definiert und dabei versagt, die eindeutige Aussage der Erklärung aufrecht zu erhalten. [viii] Sogar die von der Generalversammlung verabschiedete Erklärung zur Abschaffung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung auf Grund von Religion und Weltanschauung von 1981 bestätigt nicht ausdrücklich das Recht, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln. [ix] Die wahrscheinlich bis heute umfassendste Aussage über dieses Recht stammt vom Menschenrechtsausschuss, der die Freiheit des Religions- und Weltanschauungswechsels, die Freiheit seiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen, die Freiheit von Zwang in religiösen Angelegenheiten und die Freiheit von Diskriminierung aus religiösen Gründen als die Hauptbestandteile dieses Rechtes – wie in der Erklärung vorgesehen –, bezeichnet. [x] Neben dem Rechtssystem der Vereinten Nationen haben globale Konferenzen und Versammlungen in den letzten 15 Jahren nahezu universelle Bekenntnisse abgegeben, um die Religions- und Glaubensfreiheit zu fördern und zu schützen. [xi] Als Unterzeichner der Allgemeinen Erklärung und der späteren Verträge und globalen Verpflichtungen tragen Regierungen in erster Linie die Verantwortung dafür, die notwendigen Bedingungen zu schaffen, zu schützen und zu fördern, damit alle ihre Bürger sich der Gewissens-, Religions- und Glaubensfreiheit erfreuen können.

Das Recht, die eigene Religion oder Weltanschauung zu lehren

Eng verbunden mit der Freiheit, an seiner Religion oder Weltanschauung festzuhalten oder sie zu wechseln, ist die Freiheit,  diese anderen mitzuteilen. Im Rahmen der vielfältigen Aktivitäten, die unter Umständen von der Freiheit, seine Religion oder Überzeugung zu bekunden, abgedeckt sind, ist das Recht, seine eigene Religion oder Weltanschauung zu lehren, besonders umstritten. [xii] Während die Erklärung einen bedingungslosen Schutz des ‚internen’ Rechts auf Religionsfreiheit verlangt, unterliegt das ‚externe’ Recht, seine Überzeugung zu bekunden, Einschränkungen: Regierungen dürfen dieses Recht einschränken, „um den berechtigten Forderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung oder dem allgemeinen Wohl einer demokratischen Gesellschaft zu entsprechen.“ [xiii] Dieser den Staaten gewährte Ermessensspielraum ist jedoch oft dazu missbraucht worden, Minderheiten zu unterdrücken und hat die Frage aufgeworfen, welches Eingreifen von Regierungen gerechtfertigt ist, wenn es sich um Bekundungen von Religion oder Weltanschauung handelt.

Manche Staaten vertreten die Ansicht, dass Einschränkungen des Lehrens von Religionen und des Weitergebens von Glaubensüberzeugungen notwendig sind, um bestimmte Traditionen zu erhalten und die Rechte der betroffenen Bevölkerung zu wahren. Das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit bedingt aber notwendigerweise die Offenlegung neuer Ideen und die Fähigkeit, Informationen weiterzugeben bzw. zu erhalten. [xiv] Einschränkungen mit der Begründung der „Aufrecherhaltung öffentlicher Ordnung“ und „Moral“ sind ebenfalls mit erheblichem Ermessensspielraum angewandt worden und in einer Art, die mit dem Prinzip der Nichtdiskriminierung unvereinbar ist. [xv] Insbesondere nichtdemokratische und theokratische Staaten haben wiederholt ohne Begründung solche Einschränkungen erlassen, was nicht nur deren Interpretation dieses Rechts in Frage stellt, sondern auch ihren Schutz in Bezug auf verwandte Rechte und Freiheiten wie das Recht auf Arbeit und Bildung, die Redefreiheit und das Recht auf friedliche Versammlung, um nur einige zu nennen. [xvi] Obgleich Einschränkungen der Religions- und Glaubensfreiheit sinnvoll angewendet werden können, hat der Missbrauch dieser Einschränkungen durch Staaten die Ausgrenzung unterdrückter Minderheiten nur verschlimmert.

Zum Schutz der Religions- und Glaubensfreiheit gehört auch die Wachsamkeit, die Bürger vor den Kräften extremer Orthodoxie zu bewahren. Anstiftung zu Gewalt, Extremismus und Feindschaft im Namen der Religion müssen entschieden mit Strafe belegt und rückhaltlos verurteilt werden. [xvii] In gleicher Weise müssen Staaten konsequent die Gleichberechtigung von Frau und Mann als moralisches Prinzip und als internationales Recht vertreten und jede Handlung verurteilen, die Frauen die Würde und Gewissensfreiheit im Namen der Religion verweigert. Letztendlich muss eine präventive Langzeitstrategie in Bemühungen verankert werden, Kinder wie auch Erwachsene auszubilden, indem ihnen Lesen und Schreiben beigebracht und somit die Gelegenheit geboten wird, andere Glaubenssysteme kennen zu lernen. Im Rahmen einer Bildungskultur werden Menschen, die die Schriften ihrer eigenen und die anderer Religionen lesen können, die die Freiheit haben, Fragen zu stellen und zu diskutieren und die sich an der Generierung und der Anwendung von Wissen beteiligen können, besser darauf vorbereitet sein, den Kräften der Unwissenheit und des Fanatismus zu widerstehen. [xviii]

Ausgegrenzte religiöse Minderheiten

Heute stehen viele Staaten vor der weiteren Herausforderung, angesichts eines zunehmenden kulturellen und religiösen Pluralismus den sozialen Zusammenhalt und die nationale Einheit zu bewahren. Oftmals sind drohende soziale Instabilität und gewaltsame Proteste die Hauptgründe staatlicher Entscheidungen, Forderungen von Minderheiten zu entsprechen. Tatsächlich können ausgegrenzte Gruppen bei ihrem Verlangen nach Wiedergutmachung gewalttätig werden und Staaten dazu zwingen, ihre Forderungen anzugehen, um sozialen Unruhen und möglichen Bedrohungen der nationalen Sicherheit vorzubeugen. Dieses Reaktionsmuster kann sich jedoch als gefährlich erweisen, denn es leistet der Gewalt Vorschub, besonders dort wo friedlich organisierte Gruppen mit ihren Anliegen wiederholt keine Beachtung finden. Es führt gerade dann zu einer verstärkten Diskriminierung, wenn Gruppen auf Grund ihrer Religion ausgeschlossen und ihr gewaltfreies Bemühen um Wiedergutmachung ignoriert werden.

Staaten müssen daher mehr tun, als nur rein materielle und praktische Überlegungen anzustellen. Sie müssen von der Kraft moralischer Prinzipien und der Rechtsstaatlichkeit geleitet sein. Unter diesen Prinzipien steht die Einheit an höchster Stelle – auf örtlicher, nationaler und globaler Ebene –, gegründet auf einem friedlichen Ausgleich kultureller Vielfalt. Staaten müssen die überholten Vorstellungen von kultureller Homogenität und ideologischer Einförmigkeit als Garanten des Friedens und der Sicherheit ablegen und stattdessen die Vielfalt der Identitäten und Überzeugungen, die sich unter dem Schutz gerechter Gesetze und allgemeiner Menschenrechte begegnen, als die Grundlage für den Zusammenhalt und das Wohlergehen der Gesellschaft akzeptieren.

Religiöse Repräsentanten

Nun liegt es nicht allein in der Verantwortung von Staaten, die allgemeinen Prinzipien der Religions- und Glaubensfreiheit zu vertreten, sondern auch bei den religiösen Repräsentanten. In einer Welt, die ständig von Gewalt und Konflikten im Namen der Religion gequält wird, liegt eine schwerwiegende Verantwortung bei den Repräsentanten religiöser Gemeinschaften, ihre Anhänger zu friedlicher Koexistenz und gegenseitigem Verständnis mit jenen zu führen, die anders denken und glauben. Nur zu oft haben jene, die im Namen der Religion agieren, die Flammen des Hasses und Fanatismus geschürt und dadurch selbst das größte Hindernis auf dem Weg zum Frieden gebildet. Trotz dieser schmerzlichen Wahrheit bezeugen wir, dass die Religionen und Glaubensvorstellungen der Welt, mit denen sich die Mehrheit der Erdenbewohner identifiziert, ein reiches geistiges, moralisches und kulturelles Erbe übermittelt haben, das auch noch in diesen unruhigen Zeiten Beistand und Führung bietet. In der Tat haben Religionen den Menschen von Grund auf die Motivation dafür geliefert, über die rein materielle Auffassung der Wirklichkeit hinauszublicken und edlere Vorstellungen von Gerechtigkeit, Versöhnung, Liebe und Selbstlosigkeit im Dienst am Gemeinwohl zu entwickeln.

Wenn man die Bedeutung von Kultur und Religion für Motivation und Verhalten berücksichtigt, wird deutlich, dass gesetzgebende Maßnahmen allein nie das Engagement und gegenseitige Verständnis bewirken werden, welche für eine dauerhafte Kultur der friedlichen Koexistenz erforderlich sind. Die Rolle der religiösen Repräsentanten als Partner – in Wort und Tat – bei der Schaffung einer Kultur der Achtung vor der Menschenwürde, vor der Freiheit des Gewissens, der Religion und der Überzeugung kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Die Mächte der Geschichte fordern jeden gläubigen Menschen dazu auf, seinen eigenen Heiligen Schriften und Traditionen jene geistigen Prinzipien zu entnehmen, die Antwort auf die schwierigen Fragen geben, die von einem Zeitalter gestellt werden, das sich nach Einheit und Gerechtigkeit sehnt. Bei diesem gemeinsamen Vorhaben, das sich auf einem Verständnis für angeborene Würde, Verstand und Gewissen jedes Menschen gründet, müssen religiöse Repräsentanten für die Heiligkeit des menschlichen Gewissens eintreten und uneingeschränkt einem jeden die Freiheit der Suche nach Wahrheit zugestehen.

Empfehlungen

Wir fordern die Vereinten Nationen auf, eindeutig zu erklären, dass gemäß internationalem Recht jeder das Recht hat, seine Religion zu wechseln. Die Generalversammlung möge den Internationalen Gerichtshof bitten, gemäß Artikel 96 der Charta der Vereinten Nationen ein Rechtsgutachten zur Frage der Religions- und Glaubensfreiheit abzugeben. Der Gerichtshof könnte insbesondere gefragt werden, ob das Prinzip der Religions- und Glaubensfreiheit den Status des jus cogens, des anerkannten internationalen Rechts, erlangt hat, oder ob die Interpretation jedem Staat überlassen bleibt. Eine solche Klarstellung würde dabei helfen, abwegige Interpretationen dieses Rechts auszuschalten, und sie würde bei Verletzung des Prinzips der Nichtdiskriminierung in Bezug auf Religion und Weltanschauung der Verurteilung von Politiken und Praktiken moralisches Gewicht verleihen.

Dieser Klarstellung müssen konkrete Handlungen folgen – investigative, rechtliche und durchführende. Zunächst sind Recherchen und Analysen erforderlich, um die Mindesterfordernisse für die Einhaltung internationaler Gesetze zu klären und Indikatoren zu entwickeln, an denen die Einhaltung oder Nichteinhaltung der Religions- und Glaubensfreiheit gemessen werden können. Ein jährlich von den Vereinten Nationen erstellter Weltbericht, der den Stand dieser Freiheit in der ganzen Welt bewertet, würde weiteres Material liefern und einen Vergleich über längere Zeitspannen und über geographische Regionen hinweg ermöglichen. [xix]

Die Vereinten Nationen müssen umfassend und entschieden gegen religiösen Extremismus als eines der hauptsächlichen Hindernisse im Friedensprozess vorgehen. [xx] Während die Vereinten Nationen religiöse Intoleranz und Verfolgungen verurteilt haben, sind sie bis jetzt zurückhaltend gewesen, religiösen Extremismus als Motivation für gewalttätige und terroristische Handlungen anzusehen und energisch zu verurteilen. [xxi] Da oft Frauen unter religiösem Extremismus und der sich daraus ergebenden Verletzung der Freiheiten am meisten leiden müssen, sollte der Ausschuss für die Beseitigung aller Arten von Diskriminierung von Frauen die Herausgabe einer Erklärung erwägen, die insbesondere Fragen der Religions- und Glaubensfreiheit von Frauen behandelt. [xxii]

Wir unterstützen die Bildung eines Menschenrechtsrates mit dem Ziel, den Vorrang der Menschenrechte, wie er in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt ist, wieder herzustellen. Außerdem sollte das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte Schritte unternehmen, um die Rolle der Sonderberichterstatterin für Religionsfreiheit zu stärken, die Finanzierung für ihre Aufgaben zu verbessern und ihr damit die Möglichkeit zu geben, Tendenzen weltweit wie auch länderbezogen genauer zu überwachen. [xxiii] Da das Mandat der Sonderberichterstatterin eines der wesentlichen Instrumente darstellt, um die Vereinten Nationen über Fragen der Religionsfreiheit zu unterrichten, empfehlen wir, dass der Umsetzung von Empfehlungen der Sonderberichterstatterin größere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Der Hochkommissar möge an eine Erweiterung des Mandats für die Sonderberichterstatterin denken, wobei sie nicht nur über Rechtsverletzungen berichten sollte, sondern auch über staatliche Bemühungen zur Umsetzung ihrer Empfehlungen. Generell würden die Berichte der Berichterstatterin von substantielleren und interaktiveren Erörterungen zwischen der Berichterstatterin und den betreffenden Staaten entscheidend profitieren. Über die Zusammenarbeit mit den Menschenrechtseinrichtungen der Vereinten Nationen hinausgehend sollten Staaten ihrerseits jegliche von der Berichterstatterin gewünschten Besuche gestatten und bemüht sein, ihre Nachforschungen in vollem Umfang zu unterstützen.

Dadurch, dass die Vereinten Nationen den engen Zusammenhang zwischen Freiheit, Entwicklung und Sicherheit in der heutigen Welt anerkennen, haben sie den Weg dafür geebnet, dass eine zeitgemäße Überprüfung des allgemeinen Rechts auf Religions- und Glaubensfreiheit, ihrer Rolle in der menschlichen Entwicklung und der Mittel zu ihrem Schutz möglich wurde. In unserem Bemühen, eine sinnvolle Debatte und notwendige Handlungen anzustoßen, haben wir die Maßstäbe der Gleichberichtigung, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte dargelegt sind, in den Vordergrund gerückt und auf ihre Auswirkungen auf die Errichtung einer Kultur, die die Würde und das Gewissen jedes Menschen achtet, hingewiesen. Wir sind davon überzeugt, dass der Schutz des Rechts auf Gewissens-, Religions- und Glaubensfreiheit keineswegs nur eine juristische Aufgabe oder pragmatische Notwendigkeit ist; er ist Teil eines viel umfassenderen und im wesentlichen geistigen Unternehmens, um Einstellungen und Praktiken zu gestalten, die erlauben, dass menschliche Fähigkeiten in Erscheinung treten und aufblühen. Der Menschengeist, mit Vernunft und Gewissen ausgestattet, muss die Freiheit haben, nach der Wahrheit zu suchen und zu glauben.

 

[i] Universal Declaration of Human Rights, U.N. Doc A/810 at 71 (1948). New York: United Nations [Dt.: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, Europa-Verlag, Zürich-Wien-Konstanz]. Die Erklärung wurde ohne Gegenstimmen angenommen. Acht Staaten enthielten sich: Polen, Weißrussland, Tschechoslowakei, Ukraine, Jugoslawien, Südafrika, Saudi-Arabien und die Sowjetunion.

[ii] Nicht weniger als 28 internationale Menschenrechtsdokumente enthalten Bestimmungen mit besonderem Bezug auf die Religions- und Glaubensfreiheit.

[iii] Civil and Political Rights, Including Religious Intolerance: Report submitted by Mr. Abdelfattah Amor, Special Rapporteur, in accordance with Commission on Human Rights resolution 1998/18. U.N. Doc. E/CN.4/1999/58 (1999)

[iv] Der Bericht über die menschliche Entwicklung 2004 des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen mit dem Titel Kulturelle Freiheit in unserer Welt der Vielfalt hat zum ersten Mal in der 15jährigen Geschichte des Berichts kulturelle Freiheit als einen „entscheidenden Bestandteil der menschlichen Entwicklung“ anerkannt und die „tiefgreifende Bedeutung der Religion für die Identität der Menschen“ bestätigt. Es ist bemerkenswert, dass die Analyse der menschlichen Entwicklung im Verlauf der Berichte über die menschliche Entwicklung von einem vorherrschend materialistischen Ansatz mit dem Gewicht auf Reichtum und Einkommen sich dahingehend entwickelt hat, auch die Vorstellung von Entwicklung als eine Ausweitung der menschlichen Freiheiten einzubeziehen. Ebenso wichtig ist die Veröffentlichung der jährlichen Arabischen Berichte über die menschliche Entwicklung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, was ein Pioniervorhaben arabischer Wissenschaftler auf diesem Gebiet darstellt. Der viel beachtete Bericht 2002 bezeichnet Freiheit sowohl als den „Garanten wie auch das Ziel“ der menschlichen Entwicklung und der Menschenrechte und stellt Freiheit als eine der wichtigsten Voraussetzungen für Entwicklung in der arabischen Region heraus. Der Bericht 2004, der die Defizite an Freiheit und guter Staatsführung erörtert, untersucht die religiösen, rechtlichen und politischen Strukturen, die menschliche Freiheiten bedrohen und fordert unverzügliches Handeln, sich vordringlich darum zu kümmern, „alle Formen der Diskriminierung von Minderheiten zu beenden.“

[v] 2005 World Summit Outcome, U.N. Doc. A/60/L.1

[vi] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 18, vgl. Fußnote 1

[vii] Ein unveräußerliches Recht unterliegt keinerlei staatlicher Verordnungen, selbst nicht in Zeiten nationalen Notstands.

[viii] Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, ist seit der Erklärung in keinem internationalen Dokument mit solcher Klarheit formuliert worden. Zum Beispiel: Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) stellt die Freiheit des Einzelnen sicher, „eine Religion oder Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen“; der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966) garantiert, dass die im Pakt bezeichneten Rechte „ohne irgendeine Diskriminierung in Bezug auf Religion ausgeübt werden“; die Konvention über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frauen (1979) ruft die beteiligten Staaten auf, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um Frauen die Garantie zu geben, dass sie „die Menschenrechte und Grundfreiheiten in Gleichberechtigung mit den Männern genießen und ausüben können“; die Konvention über die Rechte des Kindes (1989) bekräftigt das „Recht des Kindes auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“; die Konvention über die Verhinderung und Bestrafung von Völkermord (1948) enthält in seiner Definition von Völkermord „Handlungen, die mit der Absicht verübt werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe zu vernichten.“ Bemerkenswerterweise sehen regionale Verträge wie die Amerikanische Konvention über Menschenrechte (1969) und die Europäische Menschenrechtskonvention (1950) ausdrücklich die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, vor.

[ix] Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund von Religion oder Weltanschauung, U.N. Doc. A/36/684 (1981). Die Erklärung bestätigt die „Freiheit, eine Religion oder beliebige Weltanschauung eigener Wahl zu haben und die Freiheit, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat seine Religion oder Weltanschauung in Gottesdienst, Vollziehung von Riten, Ausübung und Lehre zu bekennen.“ Bedauerlicherweise hat diese Erklärung noch nicht den Status eines rechtskräftigen Vertrags erlangt.

[x] Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Erklärung 22, Artikel 18, U.N. Doc. HRI\GEN\1\Rev.1 at 35 (1994). Die übrigen Kernelemente dieses Rechts beinhalten: die Rechte der Eltern, den Rechtsstatus, die Grenzen der den Regierungen erlaubten Einschränkungen sowie die Unveräußerlichkeit.

[xi] Folgende globale Konferenzen, Erklärungen und Aktionsprogramme haben das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit bestätigt: Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund von Religion oder Weltanschauung (1981), Wiener Erklärung und Aktionsprogramm (1993), Kopenhagener Erklärung und Aktionsprogramm (1995), Millenniumserklärung der Vereinten Nationen (2000), Millennium Weltfriedensgipfel - Verpflichtung zu globalem Frieden (2000), Durban Erklärung und Aktionsprogramm (2001).

[xii] Die Allgemeine Erklärung (vgl. Fußnote 10) stellt fest, dass „die Ausübung und Lehre von Religion und Weltanschauung auch Handlungen umfasst, die wesentlich sind, damit religiöse Gruppen ihre grundlegenden Angelegenheiten regeln können, wie die Freiheit, ihre religiösen Führer, Priester und Lehrer zu bestimmen, die Freiheit, Seminare oder religiöse Schulen zu gründen und die Freiheit, religiöse Schriften und Veröffentlichungen herzustellen und zu verbreiten.“ Die Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund von Religion oder Weltanschauung von 1981 gewährt ausdrücklich das Recht, die eigene Religion zu lehren.

[xiii] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 29 (vgl. Fußnote 1). Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte sieht in ähnlicher Weise Einschränkungen vor, „wie Gesetze sie vorschreiben und die notwendig sind, um die öffentliche Sicherheit, Ordnung, Gesundheit und Moral sowie die Grundrechte und Freiheiten anderer zu schützen.“ (Artikel 18)

[xiv] Eine Identitätsänderung aufgrund einer Konvertierung stellt keine Verletzung der Menschenrechte des Einzelnen dar. Vielmehr ist es der Wunsch eines Menschen, seine Identität zu wahren, der gesetzlichen Schutz erfordert. Gleichermaßen können Staaten den Grundsatz der Bewahrung bestimmter Traditionen, Religionen oder Ideologien nicht dazu benutzen, um Einschränkungen der Religions- und Glaubensfreiheit zu rechtfertigen.

[xv] Mit Bewahrung der „Moral“ begründete Einschränkungen sind die umstrittensten und führen leicht zu Missbrauch, da ein auf Religion gegründetes moralisches Prinzip dazu benutzt werden kann, sich über die religiöse Überzeugung eines anderen hinwegzusetzen. Die Allgemeine Erklärung 22 des Menschenrechtsausschusses bestätigt, dass „Einschränkungen des Schutzes der Religions- und Glaubensfreiheit nicht auf Grundsätzen beruhen dürfen, die sich auf eine einzelne Tradition gründen.“ (vgl. Fußnote 10)

[xvi] Staaten haben auch pauschale Vorbehalte gegenüber ganzen Konventionen geäußert, und zwar mit Bezug auf die Anwendung religiöser Gesetze durch diese Staaten. Dies ist unvereinbar mit Artikel 18 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR), der gesetzlich vorgeschriebene Einschränkungen vorsieht, die „notwendig sind, um die öffentliche Sicherheit, Ordnung, Gesundheit und Moral sowie die Grundrechte und Freiheiten anderer zu schützen.“ Weiterhin hat der Menschenrechtsausschuss in seiner Allgemeinen Erklärung zu Artikel 18 des ICCPR festgestellt, dass Einschränkungen der Freiheit der Bekundung von Religion oder Weltanschauung zum Schutze der Moral „auf Grundsätzen beruhen müssen, die sich nicht ausschließlich auf eine einzelne Tradition gründen.“

[xvii] Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte verbietet „jegliche Befürwortung von nationalem, rassischem oder religiösem Hass, der eine Anstiftung zu Diskriminierung, Feindschaft oder Gewalt darstellt.“ Entsprechend sollten Staaten, wie es die Konvention gegen die Diskriminierung bei der Bildung (1960) der UNESCO fordert, jene verurteilen und energisch bestrafen, die im Namen der Religion das Bildungssystem und die Medien dazu benutzen, die Gewissensfreiheit zu unterdrücken und Spaltung, Hass, Terrorismus, Gewalt und Blutvergießen zu fördern.

[xviii] Der ehemalige Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit, Abdelfattah Amor, hob Bildung und Erziehung – besonders in Bezug auf die Menschenrechte – als einen Hauptbestandteil bei der Schaffung einer Kultur der Toleranz und Nichtdiskriminierung hervor. 2001 berief Amor die Internationale Beratende Konferenz über Schulbildung mit Bezug auf Religions- und Glaubensfreiheit, Toleranz und Nichtdiskriminierung ein und forderte die Teilnehmer auf, eine weltweite Bildungsstrategie zu entwickeln, um auf Religion oder Weltanschauung gegründete Intoleranz und Diskriminierung zu bekämpfen. (U.N. Doc. E/CN.4/1999/58)

[xix] Civil and Political Rights,Including Religious Intolerance, vgl. Fußnote 3

[xx] Ibid., 125 (a)

[xxi] Die Vereinten Nationen waren zurückhaltend dabei, religiösen Fanatismus als Quelle des Terrorismus zu bezeichnen und nahmen darauf nur indirekt Bezug, z. B. „durch Intoleranz und Extremismus motivierter Terrorismus“ (S/RES/1373 (2001)). Sogar die verschiedenen vom Sicherheitsrat, der Generalversammlung und dem Menschenrechtsausschuss herausgegebenen Resolutionen in Reaktion auf die terroristischen Handlungen des 11. September 2001 versäumten es, religiösen Fanatismus als die Kraft zu benennen, die zu diesen Handlungen antrieb.

[xxii] Tahzib-Lie, Bahia G. (2004) „Dissenting Women, Religion or Belief, and the State: Contemporary Challenges that Require Attention.“ In Lindholm, T., Durham, W. Cole Jr., Tahzib-Lie, Bahia G. (Eds.) Facilitating Freedom of Religion or Belief: A Deskbook. Oslo, Norway: Martinus Nijhoff Publishers.

[xxiii] Nur ein kleiner Teil der Mitgliedsstaaten ist jemals hinsichtlich der Einhaltung der Artikel der Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund von Religion oder Weltanschauung von 1981 überwacht worden.

Religion und Entwicklung am Scheideweg: Konvergenz oder Divergenz?

Religion und Entwicklung am Scheideweg: Konvergenz oder Divergenz?

Eine Erklärung der Internationalen Bahá’í-Gemeinde (Bahá'í International Community – BIC) anlässlich des Weltgipfels für Nachhaltige Entwicklung BIC Dokument-Nr. 02-0826: Religion and Development at the Crossroads Convergence or Divergence

Johannesburg, Süd-Afrika—26 August 2002

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sind ethnische, rassische und nationalistische Vorurteile in steigendem Maße der Einsicht gewichen, dass die Menschheit eine einzige Familie und die Erde ihre gemeinsame Heimat ist (1). Die Organisation der Vereinten Nationen (UN), die als Reaktion auf dieses erwachende Verständnis gegründet wurde, wirkt unermüdlich darauf hin, eine Welt zu gestalten, in der alle Völker und Nationen gemeinsam in Frieden und Harmonie leben können. In ihrem Bemühen, eine solche Welt zu schaffen, haben die Vereinten Nationen ein bemerkenswertes Rahmenwerk an internationalen Institutionen, Verfahren, Vereinbarungen und globalen Aktionsplänen ins Leben gerufen. All das hat dazu beigetragen, Konflikten und Kriegshandlungen vorzubeugen, die Menschenrechte zu verteidigen, die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern zu fördern und die materiellen Lebensbedingungen für unzählige Einzelne und Gemeinschaften zu verbessern.

Trotz dieser bedeutenden Errungenschaften müssen die Vereinten Nationen sowohl die konstruktive Rolle, welche die Religion bei der Schaffung einer friedvollen und prosperierenden Weltordnung spielen, als auch den zerstörerischen Einfluss, den religiöser Fanatismus auf Stabilität und Fortschritt in der Welt ausüben kann, erst noch voll erfassen. Die fehlende Aufmerksamkeit gegenüber der Religion ist deutlich auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit zu erkennen, auf dem die Vereinten Nationen die Religionsgemeinschaften meist nur als Kanäle für die Verteilung von Gütern und Dienstleistungen und als Mittel zur Umsetzung von Entwicklungsvereinbarungen und -programmen betrachten. Außerdem ist das Räderwerk der Vereinten Nationen für Menschenrechte wohl in Gang gesetzt worden, um religiöse Intoleranz und Verfolgungen zu verurteilen (2), aber die UN-Entwicklungsmaßnahmen und -programme (3) haben kaum auch nur damit begonnen, religiöse Bigotterie als eines der größten Hindernisse für Frieden und Wohlergehen anzusprechen (4).

Religion als Grundlage für Zivilisation und Fortschritt

Es wird zunehmend deutlich, dass der Übergang zum krönenden Stadium im jahrtausendelangen Prozess der Gestaltung des Planeten zu einer einzigen Heimat für die gesamte Menschheit nicht in einem seelischen Vakuum erreicht werden kann. Religion, so verkünden die Bahá’í-Lehren, „ist die Quelle der Erleuchtung, die Ursache von Entwicklung und der belebende Antrieb allen menschlichen Fortschritts“ (5), und sie „ist seit jeher die Grundlage aller Zivilisation und allen Fortschritts in der Geschichte der Menschheit gewesen.“ (6) Sie ist die Quelle von Sinn und Hoffung für die überwiegende Mehrheit der Erdenbewohner, und sie hat eine unbegrenzte Macht, bei ihren Anhängern Opferbereitschaft, Wandel und langanhaltende Hingabe zu wecken (7). Es ist daher unvorstellbar, dass eine friedvolle und gedeihliche globale Gesellschaft – eine Gesellschaft, die eine grandiose Vielfalt an Kulturen und Völkern umhüllt – geschaffen und nachhaltig aufrecht erhalten werden kann, ohne die großen Weltreligionen direkt und maßgeblich an ihrer Gestaltung und Förderung zu beteiligen (8).

Gleichzeitig kann nicht geleugnet werden, dass die Kraft der Religionen dazu missbraucht wird, Nachbarn gegeneinander aufzubringen. Die Bahá’í-Schriften legen dar, dass „Religion eine Quelle der Kameradschaft, die Ursache von Einheit und der Nähe von Gott zum Menschen sein muss. Wenn sie Hass und Kampf erregt, ist es klar, dass das Fehlen von Religion vorzuziehen ist und ein unreligiöser Mensch besser ist als einer, der sich zu ihr bekennt.“ (9) Solange geduldet wird, dass religiöse Feindseligkeiten die Welt destabilisieren, wird es unmöglich sein, weltweit Strukturen nachhaltiger Entwicklung aufzubauen: und genau das ist doch das Ziel dieses UN-Gipfels.

 

Religion und die Vereinten Nationen: Zusammenarbeit für Frieden und Gerechtigkeit

Vor dem Hintergrund der Geschichte des religiösen Fanatismus ist es verständlich, dass die Vereinten Nationen zurückhaltend sind, die Religion in ihre Verhandlungen einzubeziehen. Jedoch können sie es sich nicht länger leisten, den unermesslichen Nutzen, den Religionen der Welt erbracht haben und nach wie vor erbringen, zu ignorieren, genauso wenig wie ihr Potenzial für heilsame und weitreichende Beiträge zur Errichtung einer friedvollen, prosperierenden, nachhaltigen Weltordnung. Die Vereinten Nationen werden nämlich eine solche globale Ordnung nur in dem Maße erfolgreich aufbauen können, wie sie sich die Kraft und die Vision von Religion zu Nutze machen. Hierzu wird es notwendig sein, Religion nicht nur als ein Vehikel für das Übermitteln und Ausführen von Entwicklungsinitiativen anzusehen, sondern als aktiven Partner in der Ausarbeitung, Gestaltung, Implementierung und Evaluierung globaler Vereinbarungen und Programme (10). Die historisch gerechtfertigte Mauer zwischen den Vereinten Nationen und den Religionen muss fallen (11), um den Erfordernissen einer um Einheit und Gerechtigkeit ringenden Welt gerecht zu werden (12).

Die Hauptverantwortung jedoch liegt bei den Religionen selbst. Die Anhänger der Religionen und, wichtiger noch, die religiösen Oberhäupter müssen zeigen, dass sie bei dem großen Unterfangen, eine nachhaltige Weltgesellschaft zu errichten, würdige Partner sind. Es wird von den religiösen Führern eine gewissenhafte und unermüdliche Anstrengung erfordern, religiöse Bigotterie und Aberglauben (13) aus ihren Glaubenstraditionen zu verbannen. Es wird nötig sein, dass sie sich das Prinzip der Gewissensfreiheit für alle Menschen, auch für ihre eigenen Anhänger (14), zu Eigen machen und religiöse Ausschließlichkeits- und Endgültigkeitsansprüche aufgeben (15).

Es ist nicht davon auszugehen, dass die Anerkennung der Religion als Partner der Vereinten Nationen anders als schrittweise vonstatten geht, oder dass religiöse Feindseligkeiten in kurzer Zeit beendet werden. Aber die verzweifelten Nöte der Menschheitsfamilie verbieten einen weiteren Aufschub darüber, die Rolle der Religionen anzusprechen.

Religion und Vereinte Nationen: Mögliche erste Schritte

Die Vereinten Nationen könnten den Prozess einer echten Einbindung der Religionen in Erörterungen über die Zukunft der Menschheit damit beginnen, dass sie zu einer ersten Versammlung religiöser Oberhäupter einladen. Diese könnte vielleicht durch den Generalsekretär einberufen werden. Als vordringlichste Maßnahme könnten die religiösen Oberhäupter zu einem Abkommen über Religions- und Glaubensfreiheit aufrufen, das mit Unterstützung der Religionsgemeinschaften so schnell wie möglich von den Regierungen der Welt zu verfassen und zu ratifizieren wäre (16). Solch eine Maßnahme der religiösen Oberhäupter der Welt, die ihre Bereitschaft signalisieren würde, Gewissensfreiheit für alle Menschen zu akzeptieren, würde die Spannungen in der Welt erheblich verringern. Diese Versammlung könnte die Gründung eines ständigen Forums der Religionen innerhalb der Vereinten Nationen erörtern, das sich anfänglich vielleicht am Vorbild des jüngst gegründeten Permanenten UN-Forums für Indigene Völker zu orientieren hätte. Die Schaffung eines solchen Gremiums wäre ein wichtiger erster Schritt zur vollen Einbindung der Religion in die UN-Arbeit zur Errichtung einer friedvollen Weltordnung (17).

Ihrerseits werden die religiösen Oberhäupter zeigen müssen, dass sie würdig sind, an einem solchen Forum teilzunehmen. Nur diejenigen, die ihren Anhängern deutlich machen, dass Vorurteile, Bigotterie und Gewalt keinen Platz im Leben eines religiösen Menschen haben, sollten zur Teilnahme an der Arbeit dieser Körperschaft eingeladen werden.

Das verheißene Reich von Frieden und Gerechtigkeit

Es ist offensichtlich, dass die Menschheit um so länger unter den Heimsuchungen von Ungerechtigkeit und Zwietracht leiden muss, je weiter die Vereinten Nationen eine bedeutsame Einbindung der Religion in ihre Arbeit hinauszögern (18). Es ist ebenfalls klar, dass Frieden und Wohlfahrt ein Trugbild bleiben werden, solange die Religionen der Welt nicht dem Fanatismus abschwören und entschieden daran arbeiten, ihn aus ihren Reihen zu verbannen. Die Verantwortung für die bedrohliche Lage der Menschheit liegt größtenteils bei den religiösen Oberhäuptern der Welt. [NB: dieser Satz ist eigentlich unverständlich, sowohl im Originaltext wie in der Übersetzung. Sollte er eine Schuldzuweisung, eine Zuständigkeitserklärung, eine Verpflichtung oder eine Verheissung ausdrücken?] Sie sind es, die ihre Stimmen erheben müssen, [… also doch eine Verpflichtung. Dann werden die Oberhäupter hoffentlich nicht zur ‘bedrohlichen Lage’ verpflichtet, sondern zu deren Beseitigung.] um dem Hass, der Ausschließlichkeit, der Unterdrückung des Gewissens, der Verletzung der Menschenrechte, der Verweigerung der Gleichberechtigung, der Auflehnung gegen die Wissenschaft sowie der Verherrlichung des Materialismus, der Gewalt und dem Terrorismus, die im Namen religiöser Wahrheit verübt werden, ein Ende zu setzen. Darüber hinaus sind es die Anhänger aller Religionen, die ihr eigenes Leben verändern und sich in das Gewand der Opferbereitschaft und des Dienstes an der Wohlfahrt anderer kleiden müssen, um dadurch zur Verwirklichung des lange versprochenen Reichs von Frieden und Gerechtigkeit auf Erden beizutragen.

Anmerkungen

1. Mit dieser Einsicht entwickelte sich das Bewusstsein, dass weltweiter Friede und weltweites Wohlergehen unmöglich sind, solange immer wieder Menschenrechte verletzt werden, Frauen die Gleichbehandlung versagt wird, ethnische und rassische Minderheiten diskriminiert werden, die verheerenden Auswirkungen von Armut ignoriert werden und nationale Souveränität ungezügelt ausgeübt wird.

2. Leider ist es den Vereinten Nationen bisher nicht gelungen, über ihre Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung auf Grund der Religion oder der Überzeugung [Declaration on the Elimination of All Forms of Intolerance and of Discrimination Based on Religion or Belief] hinaus eine Konvention über Religions- und Glaubensfreiheit hervorzubringen. Dass die Vereinten Nationen Erklärungen der Generalversammlung zu Rasse und zu Frauen in Konventionen umwandeln konnten, unterstreicht nur die Erfolglosigkeit auf dem Gebiet der Religion und des Glaubens – das heißt, die Vereinten Nationen haben nach Erstellung der Erklärung über die Beseitigung aller Formen der Rassendiskriminierung [Declaration on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination] und der Erklärung über die Beseitigung der Diskriminierung der Frau [Declaration on the Elimination of Discrimination against Women] die Internationale Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung [International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination] und die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau [Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women] geschaffen.

3. Wenn auch einige weltweite Aktionspläne, die bei Konferenzen der Vereinten Nationen in jüngster Zeit erarbeitet worden sind, darauf hindeuten, dass der Missbrauch von Religion der Entwicklung im Wege steht, enthalten die wenigen diesbezüglichen Hinweise dort weder eine Erörterung der Auswirkungen religiöser Bigotterie und Gewalt auf Entwicklung und Sicherheit, noch bieten sie nennenswerte Lösungen an. (Siehe zum Beispiel Wiener Erklärung und Aktionsprogramm [The Vienna Declaration and Programme of Action], II-22, 38; Kopenhagener Erklärung und Aktionsprogramm [The Copenhagen Declaration and Programme of Action], 69; Aktionsplattform der Vierten Weltfrauenkonferenz [The Platform for Action of the Fourth World Conference on Women], 24, 80 (f), 131, 224; Habitat-Agenda [The Habitat Agenda], 25; Wir, die Völker: Die Rolle der Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert [We the Peoples: the Role of the United Nations in the Twenty-First Century], 200; und Erklärung der Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz [The Declaration of the World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance], 59-60.)

Die Agenda 21 erwähnt zwar Religion, es wird aber kein Bezug auf die Auswirkungen genommen, die ihr Missbrauch auf Entwicklung hat (siehe Agenda 21, 5.53, 6.1, 6.3, 6.4, 6.12, 6.32, 6.34 (a)(i), 36.13 (a)). Auch das Programm für die weitere Umsetzung der Agenda 21 [Programme for the Further Implementation of Agenda 21], das auf dem Welterdgipfel +5 [Earth Summit +5] erarbeitet wurde, lässt Religion völlig außer Acht, und im Entwurf des Durchführungsplans für den Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung [Draft Plan of Implementation for the World Summit on Sustainable Development], der bei der Sitzung des Vierten Vorbereitungsausschusses (27. Mai bis 7. Juni 2002) verhandelt wurde, wird Religion nur ein einziges Mal erwähnt, und zwar wenn es darum geht sicherzustellen, dass die Bereitstellung grundlegender Gesundheitsdienste „in Übereinstimmung mit ... kulturellen und religiösen Werten“ erfolgt (A/CONF199/PC/L.5, #45). Die Tatsache, dass die zerstörerischen Auswirkungen von religiösem Fanatismus auf nachhaltige Entwicklung in den aus dem Erdgipfel, dem Erdgipfel +5 und dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung hervorgegangenen weltweiten Aktionsplänen nicht erwähnt werden, ist um so erstaunlicher, als bei einigen Konferenzen in den 90er Jahren zumindest Sorge hinsichtlich religiöser Intoleranz zum Ausdruck gebracht wurde.

4. Bei ihren Bemühungen zur Bekämpfung des Terrorismus zögern die Vereinten Nationen, religiösen Fanatismus anzusprechen. Sie haben mit einer Reihe von Resolutionen, Verträgen und Maßnahmen versucht, konzertierte internationale Zusammenarbeit zur Bekämpfung des Terrorismus zu erreichen und diesen als „eine der schwerwiegendsten Bedrohungen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im einundzwanzigsten Jahrhundert“ dargestellt sowie als abträglich für „weltweite Stabilität und Wohlfahrt“ (S/RES/1377 (2001). Aber gleichzeitig sind die Vereinten Nationen zurückhaltend, wenn es darum geht, religiösen Fanatismus als Quelle des Terrorismus auszumachen und sprechen ihn, wenn überhaupt, meist indirekt an – etwa als „terroristische Handlungen, die durch Intoleranz oder Extremismus motiviert sind“ (S/RES/1373 (2001). An den wenigen Stellen, an denen dieser direkt erwähnt wird, ist er in eine Liste verschiedener Rechtfertigungen eingebettet – „kriminelle Handlungen, die darauf zielen, Terror hervorzurufen, ... sind ... unter keinen Umständen zu rechtfertigen, gleichviel welche politischen, philosophischen, weltanschaulichen, ideologischen, rassistischen, ethnischen, religiösen oder sonstigen Erwägungen zu ihrer Rechtfertigung geltend gemacht werden.“ (A/RES/55/158, Abs. 2; siehe auch A/57/37, Anhang III, Artikel 5, Bericht des Ad-hoc-Ausschusses [der mit der Ausarbeitung eines Umfassenden Übereinkommens über den internationalen Terrorismus {Comprehensive Convention on International Terrorism} beauftragt war], der gemäß Resolution 51/210 der Generalversammlung vom 17. Dezember 1996 gebildet wurde, und Internationales Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus [International Convention for the Suppression of the Financing of Terrorism], Artikel 6). Interessanterweise schaffen es nicht einmal die verschiedenen Resolutionen, die vom Sicherheitsrat, der Generalversammlung und der Menschenrechtskommission als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 verfasst wurden, religiösen Fanatismus als die Triebkraft zu benennen, die zu diesen Anschlägen animiert hat (um Anspielungen auf diese fanatische Motivation zu finden, muss man auf die Reden des UNO-Generalsekretärs schauen: „Wir befinden uns in einem moralischen Kampf zur Bekämpfung eines Übels, das ein Fluch für einen jeden Glauben ist.“ SG/SM8013, Botschaft des Generalsekretärs Kofi Annan an die Warschauer Konferenz zur Bekämpfung des Terrorismus, 6. November 2001). Dieses Zögern, die religiöse Bigotterie als Antrieb für terroristische Handlungen zu benennen und energisch zu verurteilen, schwächt die Wirkung der Bemühungen seitens der Vereinten Nationen, dem internationalen Terrorismus ein Ende zu bereiten. Denn derartige Handlungen können nur dann wirksam bekämpft werden, wenn man die besondere Motivation, die dahinter steckt, erkennt und versteht.

5- ‘Abdu’l-Bahá, Promulgation of Universal Peace, Bahá’í Publishing Trust, Wilmette, IL, 1982, S. 361.

6- Ibid.

7. Religion hat in ganzen Bevölkerungen die Fähigkeit erweckt zu lieben, zu vergeben, zu schaffen, Großes zu wagen, Vorurteile zu überwinden, für das Gemeinwohl Opfer zu erbringen und Impulse der tierischen Natur unter Kontrolle zu halten. Sie gibt — entgegen allen Erwartungen und unter ungünstigen Voraussetzungen — noch immer Abermillionen von Menschen Kraft im täglichen Überlebenskampf; auf der ganzen Erde bringt sie Helden und Heilige hervor, die glaubwürdig und überzeugend jene Prinzipien vorleben, die in den Schriften des jeweiligen Glaubens niedergelegt sind. Tatsächlich haben, über die Jahrhunderte hinweg, ihre grundlegenden Gesetze und zentralen Prinzipien Kette und Schuss im Gefüge sozialer Beziehungen gebildet – und dadurch Völker zu Gemeinschaften vereint – und als oberste Autorität fungiert, wenn es darum geht, dem persönlichen und kollektiven Leben Sinn und Richtung zu verleihen.

8. Die Vorstellung ist nicht aufrecht zu erhalten, dass ein internationales Menschenrechtssystem die Rolle der Religion als derjenigen Kraft ersetzen könnte, die hochgradige Opferbereitschaft wecken und die weitreichenden Veränderungen bewirken kann, die für die Vereinigung und Befriedung der Menschheit notwendig sind. Wenn es auch zutrifft, dass die internationalen Menschenrechtsnormen und -standards weitgehend auf Grundsätzen basieren, die ihren Ursprung in den großen Weltreligionen haben, so kann doch ein solches, auf sich allein gestelltes – vom religiösen Ziel isoliertes – System nicht die moralische Kraft und Hingabe hervorbringen, die zur Errichtung und Aufrechterhaltung eines universellen Friedens und universeller Gerechtigkeit erforderlich sind. Tatsächlich werden Menschenrechte und grundlegende Freiheiten, losgelöst von den in allen Religionen gelehrten Tugenden – wie Freundlichkeit, Vergebung, Mitgefühl, Großherzigkeit, Liebe, Opfer, Verantwortung und Dienst am Nächsten – oft benutzt, um selbstsüchtigen Individualismus, antisoziale Lebensweisen, übermäßigen Konsum, ethischen Relativismus, kulturelle Überhöhung und nationalistischen Chauvinismus zu rechtfertigen.

9 ‘Abdu’l-Bahá, Promulgation of Universal Peace, Bahá’í Publishing Trust, Wilmette, IL, 1982, S. 181. Dieser Grundsatz wird in den Bahá’í-Schriften immer wieder betont – z.B.: „Wenn sich die Religion als Quelle des Hasses, der Feindseligkeit und des Streits erweist, wenn sie zur Ursache von Krieg und Zwietracht wird und Menschen so beeinflusst, dass sie einander töten, wäre es vorzuziehen, dass es sie nicht gäbe.“* (ibid., S. 298); „Wenn eine Religion zur Ursache von Hass und Zwietracht wird, wäre es besser, wenn es sie nicht gäbe. Es wäre besser, ohne eine solche Religion zu sein.“* (‘Abdu’l-Bahá, ‘Abdu’l-Bahá in London, Bahá’í Publishing Trust, Oakham, England, 1982, S. 28); „Wenn die Religion zur Ursache von Abneigung, Haß und Spaltung wird, so wäre es besser, ohne sie zu sein, und sich von einer solchen Religion zurückzuziehen wäre ein wahrhaft religiöser Schritt.“ (‘Abdu’l-Bahá, Ansprachen in Paris; sechste Auflage, Bahá’í-Verlag Hofheim, 1973, S. 76).

10. Wenn auch religiöse Prinzipien einen spürbaren Einfluss auf die Vereinten Nationen ausgeübt haben, besonders auf dem Gebiet der Menschenrechte, so müssen dennoch die Vereinten Nationen die Weltreligionen bei ihrer Arbeit erst noch als wirkliche Partner annehmen. Man kann wohl kaum sagen, dass die Einbindung religiöser Nichtregierungs-organisationen (NGO) in bestimmte Tätigkeitsbereiche der Vereinten Nationen, die religiösen Empfindungen, welche die Amtsträger der UNO sowie Regierungsbeamte bei ihren Verhandlungen gelegentlich zum Ausdruck bringen, der Status eines Ständigen Beobachters, den der Heilige Stuhl (der den Vatikan-Staat vertritt) innehat, und andere derartige Kanäle, über welche die Stimmen der Religion mitunter in der UNO erhoben werden, eine substanzielle Einbindung der Religion in die Beratungen und in die konzeptionelle Arbeit der UNO darstellen. Diese mangelnde Einbindung ist erstaunlich in Anbetracht dessen, dass die Schriften der Weltreligionen ein Zeitalter universellen Friedens und weltweiter Harmonie verheißen – ein Zeitalter, dessen Errichtung der zentrale Zweck der Vereinten Nationen ist.

11. Für eine interessante Sicht auf den Einfluss religiöser NGO bei den Vereinten Nationen siehe Religion and Public Policy at the UN, Religion Counts, 2002.

12. Initiativen wie der World Faiths Development Dialogue (eine gemeinschaftliche Initiative von Weltbank und einigen Weltreligionen) und der Millennium World Peace Summit of Religious and Spiritual Leaders (eine weltweite Zusammenkunft religiöser Oberhäupter, die zwar zum Teil im Sitzungssaal der UN-Generalversammlung stattfand und in die UN-Amtsträger eingebunden waren, die aber nicht offiziell von den Vereinten Nationen getragen wurde) könnten als erste Schritte dahingehend angesehen werden, dass Religion direkt in die Arbeit der Vereinten Nationen mit eingebunden wird. Die Vereinten Nationen sollten auf diese ersten Schritte aufbauen, um Mechanismen und Verfahren zu entwickeln, die auf sinnvolle Art und Weise religiöse Werte, Zielsetzungen und Visionen in das Herz dieses weltumfassenden Unternehmens, das die Vereinten Nationen darstellen, tragen.

13. Die religiösen Oberhäupter werden Wissenschaft und Religion als die beiden unentbehrlichen Wissenssysteme annehmen müssen, deren Zusammenarbeit unabdingbar ist, wenn die Menschheit Fortschritte erzielen soll. Gleichzeitig müssen diejenigen, welche die Relevanz der Religion bei der Bewältigung der scheinbar unlösbaren Probleme der Menschheit abstreiten, unvoreingenommen auf die Einsichten und die Führung der Religion schauen, um eine angemessene Anwendung der durch wissenschaftliche Forschung gewonnenen Erkenntnisse und Fertigkeiten sicherzustellen. Ein grundlegendes Prinzip der Bahá’í-Religion ist das der Harmonie von Wissenschaft und Religion: „Gott hat den Menschen mit Intelligenz und Vernunft ausgestattet, womit er die Richtigkeit von Fragen und Thesen bestimmen muss. Wenn religiöse Glaubenssätze und Meinungen sich als im Gegensatz zu den Maßstäben der Wissenschaft stehend erweisen, sind sie reiner Aberglaube und Einbildung; denn der Gegensatz von Wissen ist Unwissenheit, und Aberglaube ist das Kind der Unwissenheit. Es muss zweifellos Übereinstimmung zwischen wahrer Religion und Wissenschaft bestehen. Wenn eine Frage sich als der Vernunft widersprechend herausstellt, ist der Glaube daran unmöglich, und es gibt kein Ergebnis außer Unsicherheit und Unschlüssigkeit.“* ‘Abdu’l-Bahá, Promulgation of Universal Peace, Bahá’í Publishing Trust, Wilmette, IL, 1982, S. 181).

14. Die Förderung der Gewissensfreiheit schließt ein, dass man es allen Menschen erlaubt, die Wirklichkeit zu erforschen, andere Religionen zu studieren und Wert zu schätzen sowie ihre Religion zu wechseln, wenn sie das wünschen. Die Bahá’í-Schriften betonen, dass Gewalt und Zwang in Angelegenheiten der Religion und des Glaubens Verletzungen des Göttlichen Gebotes darstellen: „Das Gewissen des Menschen [ist] heilig und unantastbar“ (‘Abdu’l-Bahá, Auf den Pfaden der Gottesliebe, Bahá’í-Verlag Hofheim, 1997, S. 60). Wesentliches Kennzeichen dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, ist für jeden Einzelnen, die Wirklichkeit doch selbst zu untersuchen, seine Religion frei zu wählen und Gott auf die Art und Weise anzubeten, wie er es für richtig hält.

15. Die Überwindung solcher Dogmen setzt die Anerkennung dessen voraus, dass alle großen Weltreligionen in ihrem Wesen und Ursprung gleich wahr und Teile desselben göttlichen, fortschreitenden, Kultur schaffenden Prozesses sind, der die Fähigkeit der Menschheit verfeinert zu wissen, zu lieben und zu dienen. Bahá’u’lláh sagt: „Ohne Zweifel verdanken die Völker der Welt, welcher Rasse oder Religion sie auch angehören, ihre Erleuchtung derselben himmlischen Quelle und sind einem einzigen Gott untertan.“ (Ährenlese, 3. revidierte Auflage, Bahá’í-Verlag Hofheim, 1980, 111:1.) Die Zukunft der Zivilisation beruht letztlich auf Annahme oder Ablehnung eines solchen Verständnisses vom Wesen und Ursprung der großen Weltreligionen.

16. Weitere Bemühungen könnten das Verfassen und die Ratifizierung internationaler Übereinkommen über Erziehung und über Medien sein. Aufbauend auf dem Übereinkommen gegen Diskriminierung in der Erziehung [Convention Against Discrimination in Education] sollten diese Übereinkommen rückhaltlos jene verurteilen und entschlossen mit Sanktionen belegen, die im Namen der Religion Erziehung und die Medien benutzen, um Gewissensfreiheit zu unterdrücken und Entfremdung, Hass, Terrorismus, Gewalt und Blutvergießen zu unterstützen. Bildungseinrichtungen und -initiativen oder Medien-Praktiken und -Programme – ob staatlich oder privat –, die solche Haltungen und Verhaltensweisen fördern, dürfen nicht toleriert werden.

17. Die Annahme, dass die Vielfalt der Religionen die Möglichkeit eines wirkungsvollen religiösen Engagements bei den Vereinten Nationen ausschließt, muss hinterfragt werden. Die Weltreligionen haben viele gemeinsame geistige Wahrheiten und kommen zunehmend auf allen Ebenen zusammen, um gemeinsame Werte und Ziele zu erforschen, um für die Umsetzung staatlicher Vorkehrungen und Programme zu arbeiten und um eine ganze Reihe von Initiativen umzusetzen. In der Tat lässt  die gemeinsame Vision einer friedlichen Zukunft, die von allen großen Weltreligionen hochgehalten wird, enorme Hingabe, Energie und Ressourcen erkennen, die eine Einbindung der Religion in die Vereinten Nationen für diese Organisation beim Ausüben ihres globalen Mandates mit sich bringen könnte.

18. Die zunehmende Gefahr eines religiös heraufbeschworenen globalen Flächenbrandes macht nur zu deutlich, wie notwendig es ist, beschleunigt die Religionen in die Arbeit der Vereinten Nationen einzubinden. Eine solche Gefahr kann ziviles Regierungshandeln jedoch ohne Unterstützung nicht bannen. Auch sollte man sich nicht einbilden, dass allein durch Appelle zu gegenseitiger Toleranz Feindseligkeiten beendet werden können, die beanspruchen, göttlich sanktioniert zu sein. Diese Situation erfordert von den Amtsträgern der Religionen einen ebenso entschiedenen Bruch mit der Vergangenheit, wie er bei der Überwindung der gleichermaßen zerstörerischen Vorurteile der Rasse, des Geschlechts oder der Nation in der Gesellschaft vollzogen wurde. Wenn Einflussnahme auf Gewissensfragen überhaupt gerechtfertigt ist, dann nur, um dem Wohlergehen der Menschheit zu dienen. An diesem größten Wendepunkt in der Geschichte der zivilisierten Menschheit könnte nicht klarer sein, was solcher Dienst verlangt.

 

* Vorläufige Übersetzung für diese Veröffentlichung

Der menschliche Geist muss frei sein für die Suche nach Wahrheit

Der menschliche Geist muss frei sein für die Suche nach Wahrheit

Die Internationale Bahá'í-Gemeinde legte bei der vom 23. - 25. November 2001 in Madrid von den Vereinten Nationen veranstalteten Internationalen Konferenz über Schulbildung im Zusammenhang mit Religions- und Glaubensfreiheit, Toleranz und Gleichbehandlung ein Statement mit dem Titel „Belief and Tolerance: Lights Amidst the Darkness" vor. Nebenstehend der vollständige Text des Statements.

Madrid, Spain—23 November 2001

Der menschliche Geist muss frei sein für die Suche nach Wissen. Das Begreifen, wer wir sind, für welchen Zweck es uns gibt und wie wir unser Leben leben sollen, ist ein Grundimpuls des menschlichen Bewusstseins. Diese Suche nach Selbsterkenntnis und Sinn ist das Wesentliche am Leben. Das angeborene und fundamentale Streben nach der Untersuchung der Wirklichkeit ist somit das Recht und die Pflicht eines jeden Menschen. Aus diesem Grunde bestätigen die Bahá'í-Lehren, dass das „Gewissen des Menschen heilig und unantastbar ist.“1

Die Suche nach Wahrheit – mit den „eigenen Augen und nicht mit den Augen anderer"2 zu sehen - heißt, mit einem starken Gefühl für Gerechtigkeit und Offenheit einen Prozess geistiger Entdeckung auf sich zu nehmen. Dies ist in seiner ureigensten Art ein Prozess der Kreativität und Wandlung, der, wenn er mit Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit verfolgt wird, dem Sucher nach Wissen „ein neues Auge, ein neues Ohr, ein neues Herz und einen neuen Geist"3 schenken kann. Die vernunftbegabte Seele wird dadurch zu den in ihr liegenden Fähigkeiten von Freundlichkeit, Nachsicht und Mitleid erwacht. Das menschliche Sehnen nach Wahrheit ist offenkundig eine Macht, die nicht in Ketten gelegt werden kann, denn ohne die Freiheit des Wissens bleibt das menschliche Wesen ein Gefangener von Instinkt, Ignoranz und Wunsch.

Inmitten eines von moralischer Krise und gesellschaftlichem Zusammenbruch erschütterten Zeitalters ist das Bedürfnis nach Verständnis darüber, wer wir als Menschen sind, für die Erlangung eines dauerhaften Friedens und Wohlergehens lebenswichtig. Historisch gesehen ist es die Religion, welche diese Einsicht über die Existenz und das Verhalten des Menschen vermittelt. Ihre unentbehrliche Funktion, auf die universelle Neigung zur Transzendenz einzugehen, und ihre wichtige Rolle bei der Zivilisierung des menschlichen Charakters in allen Zeitaltern sind sowohl für die Definition der menschlichen Identität als auch für die Förderung der gesellschaftlichen Ordnung von grundlegender Bedeutung. Die Religion erhebt durch die Förderung des geistigen Wesens der Menschheit das Leben von Völkern auf der ganzen Welt und schafft darüber hinaus den Zusammenhalt und die Einheit des Ziels innerhalb von Gesellschaften und über sie hinaus. Die Religion stellt in einem ganz realen Sinn sozusagen die Kette und den Schuss eines gesellschaftlichen Gewebes dar - den gemeinsamen Glauben und die moralische Vision, welche die Menschen in Gemeinden vereinen und dem Leben des Einzelnen und des Kollektivs eine greifbare Richtung und Bedeutung geben. Das Recht der Ausübung der Gewissensfreiheit in Angelegenheiten der Religion und des Glaubens ist daher nicht nur für die Befriedigung der geistigen Stimme äußerst wichtig, sondern auch für den Aufbau harmonischer und gerechter Lebensmuster.

Ein Zwang in Glaubensangelegenheiten widerspricht den ureigenen Grundsätzen von Religion. Denn Engagement kann nur aus einem frei gewählten Glauben heraus geboren werden. Das jetzt in den internationalen Menschenrechtsdokumenten kodifizierte Recht der Gedanken-, Gewissens- und Glaubensfreiheit findet seine Wurzeln unmittelbar in den Schriften der Weltreligionen. Diese Tatsache sollte jedem von uns Gewissheit geben, dass man Wahrheit nicht zu fürchten braucht, da sie viele Facetten hat und all unsere unterschiedlichen Äußerungen des Glaubens schützt. Wenn Menschen religiösen Glaubens schließlich glauben, dass der Schöpfer ewig und der Mittelpunkt der gesamten Existenz ist, dann müssen sie auch glauben, dass die uneingeschränkte und echte Suche nach Wahrheit zur Wahrheit führen wird.

Die Beseitigung aller Schranken zur freien Erforschung, zur Annahme und zum Ausdruck religiösen Glaubens ist für das Ziel der Schaffung einer universalen Kultur an Menschenrechten von äußerster Wichtigkeit. Um jedoch den Weg für einen konstruktiven Dialog über die Rolle der Religion bei der Errichtung einer sozialen Gerechtigkeit frei zu machen, muss eine historische Rechenschaft abgelegt werden. Es kann nicht verleugnet werden, dass Religion für enormes Leiden verantwortlich ist. Viel Dunkelheit und Verwirrung kann jenen zugeschrieben werden, welche sich die Symbole und Werkzeuge der Religion für ihre eigensüchtigen Zwecke zueigen gemacht haben. Fanatismus und Konflikt vergiften die Quellen der Toleranz und stellen einen korrupten Ausdruck wahrer religiöser Werte dar. Folglich bedarf es der Wachsamkeit, um die transformierende Macht der Religion vor den Kräften extremer Orthodoxie einerseits und unverantwortlicher Freiheit andererseits zu schützen.

„Das Ziel der Religion", sagt Bahá'u'lláh „... besteht darin, Einheit und Eintracht unter den Völkern der Welt zu stiften; macht sie nicht zur Ursache für Zwist und Streit."4 In Einheit - einer Einheit, welche die ganze Mannigfaltigkeit der Menschheit umfasst und respektiert - können alle Probleme gelöst werden. Wenn man die Lehre, dass wir andere so behandeln sollten wie wir selbst behandelt werden möchten, eine von allen großen Religionen mehrfach wiederholte Ethik, auf universaler Ebene anwendet, wird diese zweifellos eine heilende Macht der Einheit hervorbringen. Das Errichten einer globalen, auf Zusammenarbeit, Gegenseitigkeit und wahrer Besorgnis um andere basierenden Gesellschaft ist der höchste Ausdruck vereinten Handelns. Kurz gesagt, der grundlegenden geistigen Werte, welche den Weltreligionen gemeinsam sind, enthalten die fundamentalen Mittel für die Versöhnung und Weiterentwicklung der Völker der Erde. Durch diese Werte und durch die Selbstverpflichtung, die sie bewirken, werden „Verstand, Herz und allen menschlichen Kräfte erneuert, Fähigkeiten belebt, Wissenschaften, Entdeckungen und Forscherdrang neu angeregt, und alles was den Tugenden der Menschenwelt zuzurechnen ist, neu animiert“.5

Um bei der Abschaffung der Vorurteile und Verdächtigungen, welche jetzt die Gemeinschaften der Weltreligionen heimsuchen, ihren Beitrag zu leisten, müssen sich die religiösen Führer diesen gemeinsamen geistigen Grundsätzen widmen, und nicht den Unterschieden von Doktrinen oder Ausschließlichkeitsansprüchen. Jede Religion sollte ihre Fähigkeit zeigen die Bewohner der Welt zu einem friedlichen Miteinander, moralischer Rechtschaffenheit und gegenseitigem Verständnis zu führen, statt Feindschaft, Furcht und Intoleranz zu verbreiten. Der jüngste Trend zum interreligiösen Dialog auf dem ganzen Globus stellt ein positives Beispiel dafür dar, wie ungleiche Gemeinschaften zusammenarbeiten können, um die Vision zu erweitern und einen öffentlichen Diskurs auf eine einheitsbringende Art und Weise zu führen. Religionsführer sind in einer einzigartigen Position, um Aufmerksamkeit auf die Potenziale und Möglichkeiten zu lenken, die die Angelegenheiten der Menschheit derzeit bieten, und alle gesellschaftlichen Schlüsselfiguren zum Handeln herauszufordern. Ein wachsender Austausch zischen religiösen Führern und ihren Anhängern, insbesondere Kindern, wird zweifellos zu einem neuen Verständnis dessen führen, was dem Menschen möglich ist und wie ein friedvolles kollektives Leben gefördert werden kann. „Schließt eure Augen vor Entfremdung; sodann richtet euren Blick auf die Einheit“, ist der Rat Bahá’u’lláhs. „Haltet euch beharrlich an das, was der ganzen Menschheit Wohlfahrt und Ruhe bringt. Diese Handbreit Erde ist nur eine Heimat und eine Wohnstatt.“6

Für die weltweite Bahá'í-Gemeinde ist der Schutz der menschlichen Freiheiten Teil eines größeren geistigen Unternehmens zur Förderung einer Reihe von Einstellungen und Praktiken, welche menschliches Potential wirklich freisetzen. Echter sozialer Fortschritt kann nach ihrem Glauben nur aus geistigem Bewusstsein und durch die Vermittlung von Tugenden entströmen. Aus dieser Perspektive heraus ist die Aufgabe der Schaffung eines universellen Ethos der Toleranz direkt an einen Prozess moralischer und geistiger Entwicklung gebunden.

Bildung tritt folglich als ein unerlässliches Werkzeug hervor - ein Werkzeug aktiven ethischen Lernens. „Betrachte den Menschen als ein Bergwerk, reich an Edelsteinen von unschätzbarem Wert", mahnt Bahá'u'lláh. „Nur die Erziehung kann bewirken, dass es seine Schätze enthüllt und die Menschheit daraus Nutzen zu ziehen vermag."5 Diese „Schätze" müssen bewusst entwickelt werden, denn obwohl Edelmut, Güte und Schönheit angeborene Eigenschaften unseres Wesens sind, können die Menschen Neigungen zum Opfer fallen, welche das innere Wesen verderben und das Licht der Liebe löschen.

Lehrpläne dürfen sich daher nicht alleine mit dem Wissen um physische oder soziale Phänomene befassen, sondern müssen auch auf das Ziel einer moralischen und geistigen Befähigung ausgerichtet sein. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen individuellem und sozialem Wohlergehen müssen Bildungsprogramme jedem Kind einen zweifachen ethischen Zweck nahe bringen. Der erste Zweck bezieht sich auf den Prozess persönlicher Wandlung – des intellektuellen, materiellen und geistigen Wachstums. Der zweite betrifft die komplexe Herausforderung der Wandlung von Strukturen und Prozessen der Gesellschaft selbst. Um dieses duale Ziel individueller und kollektiver Wandlung zu verfolgen, bedarf es der Entwicklung spezifischer ethischer Fähigkeiten. Zu den Fähigkeiten einer moralisch orientierten Persönlichkeit gehören die Konzepte, Werte, Haltungen und Fertigkeiten, die ihr ermöglichen angemessene moralische Entscheidungen zu treffen und kreative und kooperative Modelle sozialer Aktion zu fördern.9 All diesen Fähigkeiten zugrunde liegt eine Hingabe an die Erforschung und Anwendung der Wahrheit in allen Sphären menschlichen Strebens. Insofern moralisches Verhalten konkreter Ausdruck der geistigen Natur des Menschen ist, sollten Anstrengungen in Richtung auf eine moralische Erziehung auf systematische Weise sowohl die Methoden der Wissenschaft und die Einsichten der Religion für sich nutzbar machen.

Ein unverzichtbares Merkmal einer jeden Bildungsinitiative mit ethischem und geistigen Fokus muss der Begriff der Einheit und gegenseitigen Abhängigkeit der Menschheit sein. Einheit und Mannigfaltigkeit sind ergänzend und untrennbar. Die Tatsache, dass das menschliche Bewusstsein notwendigerweise über eine unendliche Mannigfaltigkeit an individuellem Verstand und Motivationen funktioniert, schmälert in keiner Weise dessen wesentliche Einheit. Es ist in der Tat genau eine innewohnende Mannigfaltigkeit, welche die Einheit von der Homogenität oder Einförmigkeit unterscheidet. Daher setzt die Akzeptanz des Konzepts der Einheit in der Mannigfaltigkeit die Entwicklung eines globalen Bewusstseins, eines Gefühls des Weltbürgertums und einer Liebe für die ganze Menschheit voraus. Es führt dazu, dass jedem Einzelnen bewusst wird dass, insofern die Menschheit eins und unteilbar ist, jeder Mensch in die Welt geboren wird als ein Pfand der Allgemeinheit und mit Verantwortlichkeiten für die Allgemeinheit. Außerdem folgt daraus, dass als Voraussetzung für die Herausbildung einer friedvollen internationalen Gemeinschaft den komplexen und unterschiedlichen kulturellen Ausdrucksformen gestattet werden muss, sich zu entwickeln und zu entfalten, und untereinander in Austausch zu treten im Rahmen beständig sich wandelnder Formen der Zivilisation. „Die Mannigfaltigkeit innerhalb der menschlichen Familie“, betonen die Bahá’í-Schriften, „sollte die Ursache der Liebe und des Zusammenklanges sein, wie in der Musik, bei der viele verschiedene Noten in einem vollkommenen Akkord ineinander wirken.“ 10

Das reiche religiöse Erbe der Menschheit kann auch durch die Linse der Einheit betrachtet werden. Bahá’u’lláh sagt: „Ohne Zweifel verdanken die Völker der Welt, welcher Rasse oder Religion sie auch angehören, ihre Erleuchtung derselben himmlischen Quelle und sind einem einzigen Gott untertan."11 Die Religionen der Welt können somit von ihrem Wesen und Zweck her als eins betrachtet werden, nämlich als Quelle des Wissens, der Energie und der Inspiration. Sie alle tragen dazu bei, ein größeres Ausmaß an Fähigkeiten innerhalb des menschlichen Bewusstseins und innerhalb der Gesellschaft ans Licht zu bringen - ein Prozess, welcher die Menschheit zur ethischen und geistigen Reife vorantreibt. Die Lehrpläne, welche sich  mit der Erforschung der Geschichte und der Lehren der Religion befassen, können wahlweise auf die ergänzenden Ziele und Funktionen der Weltreligionssysteme hinweisen, wie auch auf die theologischen und ethischen Fäden, die sie miteinander verbinden. In dieser Hinsicht kann das Recht des Studiums der Religion und der geistigen Wurzeln menschlicher Motivation als lebenswichtiges Element eines integrierenden Rahmens an Zusammenarbeit und Versöhnung verstanden werden.

Das Eintreten für Toleranz und gegenseitiger Verständigung unter den unterschiedlichen Segmenten der Menschheitsfamilie darf keine passive oder rein rhetorische Übung bleiben. Alle Formen von Provinzialismus, alle Einkapselungen und Vorurteile müssen direkt angegangen werden. Unglücklicherweise verhält es sich so, dass gerade religiöse Vorurteile besonders virulenten Einfluss haben, der menschlichen Fortschritt anhaltend bremst. Seinen zersetzenden Einfluss zu überwinden wird einer wohlüberlegten und nachhaltigen Anstrengung bedürfen. Zu diesem Zweck sind innovative und substantielle Erziehungsprogramme wesentlich. Aber ebenso nötig ist eine Haltung aufrichtiger Demut unter all jenen, die an einen liebenden und allmächtigen Schöpfer glauben.

Lassen wir uns dessen gewiss sein, und möge es den Kindern der Welt vermittelt werden, dass es möglich ist, sowohl den Pfad religiösen Glaubens zu betreten als auch tolerant zu sein. Die Zukunft der Kultur hängt hiervon ab.

 

 

1 'Abdu'l-Bahá, Auf Pfaden der Gottesliebe (Hofheim: Bahá'í-Verlag,1997), 167

2 Bahá'u'lláh, Verborgene Worte (Hofheim: Bahá'í-Verlag,1985), arab. 2

3 Bahá'u'lláh, Kitáb-i-Iqán (Hofheim: Bahá'í-Verlag,1997), 2:115

4 Bahá'u'lláh, Botschaften aus Akká (Hofheim: Bahá'í-Verlag,1982),  8:63

5 'Abdu'l-Bahá, The Promulagtion of Universal Peace (Wilmette: Bahá'í Publishing Trust, 1995), S. 278

6 Bahá'u'lláh, Botschaften aus Akká (Hofheim: Bahá'í-Verlag,1982), 6:27

7 Artikel 13 des Internationalen Pakts überwirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

8 Bahá'u'lláh, Ährenlese (Hofheim: Bahá'í-Verlag,1999), 122:1

9 Die Erziehungsphilosophie der Bahá’í-inspirierten Núr-Universität, der zweitgrößten privaten Einrichtung höherer Bildung in Bolivien, gründet sich weitgehend auf dieser Idee moralischer Fähigkeiten.

10 'Abdu'l-Bahá, Ansprachen in Paris (Hofheim: Bahá'í-Verlag,1997), S. 38

11 Bahá'u'lláh, Ährenlese (Hofheim: Bahá'í-Verlag,1999), 111:1

12 Bahá'u'lláh, Botschaften aus Akká (Hofheim: Bahá'í-Verlag,1982), 4:12

Korruption überwinden und Integrität in öffentlichen Institutionen schützen: Eine Baha'i-Perspektive

Korruption überwinden und Integrität in öffentlichen Institutionen schützen: Eine Baha'i-Perspektive

The Hague, Netherlands—28 May 2001

Da die Menschheit aus einem Jahrhundert des Aufbruchs und erstaunlicher Veränderungen hervorgeht, wird ihr Bedarf an moralischer und geistiger Erneuerung immer offensichtlicher. Die Tatsache, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Dunkelheit wie auch des Lichtes war, das sowohl die Neigung zu menschlicher Verderbtheit wie auch zu menschlichen Errungenschaften aufdeckte, bildet die Grundlage für die Verwirrung, die unser heutiges Zeitalter durchdringt. Eine wachsende moralische Desorientierung bedroht die sozialen Institutionen und die grundlegenden Bande, die die zwischenmenschlichen Beziehungen prägen. Der wachsende Materialismus, der sich an die Stelle eines transzendentalen Lebensverständnisses gesetzt hat, ist aus Bahá'í-Sicht verantwortlich für die Skepsis, Entfremdung und Anomie, die das heutige Dasein charakterisieren.

Vor mehr als einem Jahrhundert warnte Bahá'u'lláh, der Stifter des Bahá'í-Glaubens, vor der unvermeidlichen geistigen und moralischen Austrocknung, die durch die Abwertung der Religion entstehen würde. „In Wahrheit“, so schrieb Er, „ist die Religion ein strahlendes Licht und eine unerschütterliche Festung für den Schutz und die Wohlfahrt der Völker der Welt... Würde die Lampe der Religion verdunkelt werden, so wären Chaos und Verwirrung die Folge und die Lichter der Redlichkeit und Gerechtigkeit, der Ruhe und des Friedens würden nicht länger scheinen[i].“

Soziale Fortschritte entstehen, wie wir wissen, durch Ideale und gemeinsame Überzeugungen, die eine Gesellschaft zusammenschmieden. Bedeutsame soziale Umwälzungen entspringen sowohl der Entwicklung von Qualitäten und Einstellungen, die konstruktive Muster menschlicher Interaktion fördern, wie auch dem Erwerb technischer Möglichkeiten. Wahrer Wohlstand – ein Wohlergehen, das auf Frieden, Zusammenarbeit, Selbstlosigkeit, Würde, rechtschaffenes Verhalten und Gerechtigkeit gegründet ist, – strömt aus dem Licht des geistigen Bewusstseins und der Tugend wie auch aus  materiellen Errungenschaften und Fortschritten.

Es ist eine Herausforderung, die zentralen Grundsätze der Religion von den verzerrten Darstellungen, die fälschlicherweise in ihrem Namen geäußert werden, zu unterscheiden. Religion ist eine unentbehrliche Quelle des Wissens und der Motivation – ein Springquell von Werten, Einsichten und Energie, ohne die ein sozialer Zusammenhalt und kollektive Handlungen schwierig, wenn nicht sogar unmöglich sind. Durch religiöse Lehren und deren moralische Anleitungen haben große Teile der Menschheit gelernt, ihre niederen Neigungen zu beherrschen und Eigenschaften zu entwickeln, die soziale Ordnung und kulturelle Weiterentwicklung fördern. Solche Qualitäten wie Vertrauenswürdigkeit, Mitgefühl, Duldsamkeit, Treue, Großzügigkeit, Demut, Mut und die Bereitschaft, für das Gemeinwohl Opfer zu bringen, sind zu Bestandteilen der zwar unsichtbaren aber doch wesentlichen Grundlagen für ein fortschreitendes Gemeinschaftsleben geworden. Religion stellt die Ziegelsteine und den Mörtel der Gesellschaft dar, die ethischen Richtlinien und Visionen, welche die Menschen zu Gemeinden zusammenführen und die der Existenz des Einzelnen wie auch der Gesellschaft eine erkennbare Richtung und Bedeutung verleihen.

Fraglos hängt die Entwicklung der Fähigkeiten, die zur Bildung einer sozialen, wirtschaftlichen und moralischen Gesellschaft notwendig sind, vom Verstand wie auch vom Geist ab. Zivilisierende Tugenden wie Ehrlichkeit, Pflichtgefühl und Loyalität, die für den menschlichen Fortschritt so wesentlich sind, werden durch die Sprache des Herzens und die Stimme des Gewissens kultiviert. Rechtliche Vorschriften und Strafen sind, obwohl wichtig, in ihrer Wirksamkeit begrenzt. Sich der geistigen Wurzeln zu bedienen, die den Kern menschlicher Identität und Absicht bilden, heißt denjenigen Impuls nutzen, derwahre soziale Wandlung sicherstellen kann. Dementsprechend vertreten die Bahá'í den Standpunkt, dass das Entstehen öffentlicher Institutionen, die Vertrauen schaffen und frei von Korruption sind, eng mit einem Prozess moralischer und geistiger Entwicklung verknüpft wird. Bahá'u'lláh bestätigt: „Solange sich der Mensch seinen Trieben und Leidenschaften hingibt, werden Sünde und Verbrechen vorherrschen.“[ii]

Die Bahá'í betrachten den gesamten Zivilisationsvorgang als geistigen Prozess, der dem schrittweisen Erwachen der moralischen und kreativen Fähigkeiten der Menschen entspricht. Die Schaffung eines „korruptionsfreien“ öffentlichen Klimas hängt demzufolge von der Förderung moralischer Fähigkeiten beim Einzelnen, in Gemeinden und in sozialen Institutionen ab.

Wie können moralische Fähigkeiten aufgebaut werden? Welches sind die praktischen Strategien, die eine Gesellschaft annehmen kann, um innerhalb der Bevölkerung konstruktiv-soziale Akteure hervorzubringen, die sich für ein durch Dienst und Tugendhaftigkeit geprägtes Leben entscheiden? Erziehung und Bildung sind unverzichtbare Werkzeuge. Die Tatsache, dass die Weltgemeinschaft ihrem Wesen nach pluralistisch ist, sollte Regierungen und internationale Einrichtungen nicht davon abhalten, der Frage moralischer Entwicklung ernsthafte Aufmerksamkeit zu schenken. Die wachsende Zusammenarbeit zwischen religiösen Gemeinschaften, Nichtregierungsorganisationen und öffentlichen Einrichtungen hinsichtlich wichtiger sozialer Herausforderungen beweist, dass wirksames Handeln möglich ist.

Die Bahá'í-Gemeinschaft hat auf dem Gebiet der ethischen Führung und der moralischen Erziehung bereits eine Vielzahl von Initiativen ergriffen, obwohl diese ihrem Umfang nach noch recht bescheiden sind. Diese Programme nehmen sowohl wissenschaftliche wie auch religiöse Ressourcen zur Hilfe, um dadurch die Konzepte, Werte, Einstellungen und Fähigkeiten, die für die Schaffung eines von Rechtschaffenheit und Integrität geprägten Ethos notwendig sind, zu kultivieren. Die Erarbeitung von pädagogischen Ansätzen und Methoden zur systematischen Förderung moralischer Entwicklung gehört zu den zentralen Bemühungen der Bahá'í.

Die Núr-Universität, die zweitgrößte private Einrichtung höherer Bildung in Bolivien, verbindet akademisches Wissen sowohl mit praktischen Erfahrungen wie auch mit ethischer Erziehung, wobei besonderes Gewicht auf Dienste an der Gemeinschaft, soziale Gerechtigkeit und Achtung vor menschlicher Vielfalt gelegt wird. Núr wurde zum Großteil mit dem Ziel gegründet, Führungskräfte heranzubilden, die das Zusammenwirken von individueller und sozialer Transformation begreifen. Ihre Ausbildungsphilosophie basiert auf  Begriffen und Prinzipien aus den Bahá'í-Lehren. Das Moral Leadership Programm der Núr Universität lehrt die Teilnehmer, dass es ihre Pflicht ist, nach moralischen Grundsätzen zu suchen, diese anzunehmen und sie im Leben umzusetzen. Leadership versteht sich hier als eine Verantwortung, die von allen Mitgliedern der Gesellschaft ausgeübt wird und die nach der Entwicklung besonderer moralischer Fähigkeiten verlangt. Grundlage für diese Fähigkeiten ist das verbindliche Bemühen darum, auf allen Gebieten menschlichen Handelns nach Wahrhaftigkeit zu streben und diese anzuwenden. Dieses Programm hat bereits etwa 400 ländliche Gemeinden in Bolivien und mehr als ein Dutzend lateinamerikanischer Staaten erreicht.

Mit dem Just Governance Program bietet die Núr-Universität eine Ausbildung für Angestellte im öffentlichen Dienst und in der Regierung sowie für Mitglieder von Organisationen auf Gemeindeebene an. Dieses Programm versucht, gute Regierungsformen zu fördern, indem die verschiedenen Dimensionen eines moralischen Führungsstils untersucht werden, die administrativen und entscheidungstragenden Fähigkeiten im öffentlichen Bereich gestärkt werden, und der Dialog über die zukünftige Entwicklung der bolivianischen Gesellschaft unterstützt wird. Viele regionale Regierungsstellen und lokale Behörden haben an dem Programm teilgenommen. Eine ähnliche Initiative bezieht etwa 5000 Schüler aus staatlichen Gymnasien, in die Förderung von Jugend Leadership ein. Das Programm zielt darauf, den Anteil Jugendlicher an Straftaten, Gewalt, Alkohol- und Drogenkonsum zu begrenzen, indem es die jungen Leute für aktiven Gemeindedienst vorbereitet. Die Núr-Universität arbeitet ebenfalls daran, Schullehrer als Gemeindeentwicklungshelfer auszubilden. Um einige Zahlen zu nennen: Bis jetzt haben mehr als 2000 Lehrer aus Bolivien, Argentinien und Ecuador an diesem Programm teilgenommen, das von seinen Teilnehmern sehr positiv aufgenommen wurde. Einer der Studenten schrieb: „Das Studium dieses Kurses hat mir vor allem geholfen zu verstehen, wie wichtig es ist, mein Leben nach Prinzipien auszurichten. Jetzt versuche ich den Bedürftigen zu helfen, ohne Anerkennung zu erwarten, denen zu vergeben, die mich beleidigt haben, ohne Groll zu hegen, und mit meinen Mitmenschen das, was ich gelernt habe, zu teilen und dadurch beide Seiten glücklicher zu machen.“

Das vom Human Plenitude Program in Brasilien durchgeführte Projekt „Gerechtigkeit in der Erziehung“ ist ein weiteres Unterfangen der Bahá'í mit dem Ziel, einen ethischen Führungsstil in der Regierung zu fördern. Das brasilianische Bildungsministerium hat in Zusammenarbeit mit der Nationalen Vereinigung der Richter und Staatsanwälte ein Weiterbildungsprogramm genehmigt, das von Human Plenitude Mitarbeitern entwickelt wurde und sich an ca. 6000 Juristen richtet, die direkt mit solchen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammenarbeiten, die schon einmal mit der brasilianischen Justiz in Berührung gekommen sind. Die einführende Unterrichtseinheit dieser Ausbildungsinitiative besteht aus Materialien, die Ethik und Werte zum Schutz von Kindern und Jugendlichen ansprechen.

Unter der Schirmherrschaft des Royaumont Prozesses der Europäischen Union hat die Internationale Bahá'í-Gemeinde eine mehrjährige Initiative zur moralischen Erziehung durchgeführt mit dem Ziel, ethnische Harmonie und sozialen Zusammenhalt in verschiedenen südosteuropäischen Ländern zu fördern. Unter Einbeziehung der Happy Hippo Show, eines einzigartigen, auf Schauspiel basierenden, interaktiven Fernseh- und Radioprogramms, das mit dem Ziel entwickelt wurde, moralische und ethische Themen zu erarbeiten, hat die Internationale Bahá'í-Gemeinde Trainingsseminare für Ausbilder, Medienvertreter, Journalisten und Nichtregierungsorganisationen durchgeführt. Das Programm ist sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei Regierungsvertretern sehr populär geworden, da es Beispiele anbietet, wie man sich den Problemen des Lebens durch die Erarbeitung positiver Lösungen stellen kann.

Ein Hauptthema dieses Projektes ist die Entwicklung konstruktiver Wege, um Konflikte und Vorurteile zwischen Gruppen zu überwinden. Der Erfolg der Trainingsseminare in Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Mazedonien, Kroatien, Ungarn, Rumänien und Slowenien führte zu mehreren Nachfolgeprojekten. Radio- und Fernsehprogramme in Kroatien und Bulgarien, wie auch Lehrpläne in rumänischen Grundschulen nutzen mittlerweile die Methoden dieser Show, um darzustellen, dass die Moral für soziale Stabilität und Wohlstand von zentraler Wichtigkeit ist. Kürzlich hat der UN-Administrator und Sondergesandte des Generalsekretärs für den Kosovo den Wunsch geäußert, ein Happy Hippo Show Projekt im Kosovo zu beginnen. Das Happy Hippo Konzept wurde auch für den Einsatz bei Programmen zur Werteerziehung in Finnland, Italien, Russland, Schweden, Moldawien, Norwegen und Malaysia übernommen.

In Zusammenarbeit mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hat das Europäische Bahá'í Business Forum, ein freiwilliger Zusammenschluss von Bahá'í aus dem Wirtschaftsleben, vor kurzem ein gemeinsames Arbeitspapier mit dem Titel „Umgestaltung in Richtung sozial verantwortlicher Unternehmen“* erarbeitet. Der Bericht diente als Grundlage für verschiedene Trainingseinheiten, die von der ILO organisiert wurden, und wurde an Regierungen, Angestelltenvereinigungen und Arbeiterorganisationen auf der ganzen Welt verteilt. Das Europäische Bahá'í Business Forum hat außerdem eine Reihe von Seminaren zu Wirtschaftsethik in Osteuropa durchgeführt und eine Ausbildungspartnerschaft mit AIESEC, einer der größten Organisationen von Wirtschaftsstudenten weltweit, gebildet.

Als praktischen Beitrag zu einem Dialog über Entwicklung und sozialen Wandel, der ausdrücklich spirituelle Werte und Perspektiven in Betracht zieht, haben sich kürzlich etwa 100 einflussreiche Entwicklungsorganisationen, internationale Vertreter und Regierungsstellen, religiöse Repräsentanten und Akademiker in Neu Delhi getroffen, um an einem Kolloquium zum Thema Wissenschaft, Religion und Entwicklung teilzunehmen. Das Hauptanliegen dieser Veranstaltung war es herauszufinden, wie eine harmonische Interaktion zwischen wissenschaftlichen Methoden und religiösen Einsichten die Heranbildung menschlicher Fähigkeiten, insbesondere in Bereichen der Regierung, Ausbildung, Technologie und Wirtschaft fördern kann. Die Veranstaltung wurde von der indischen Bahá'í-Gemeinde und dem Institute for Studies in Global Prosperity, einer Forschungsabteilung der Internationalen Bahá'í-Gemeinde, organisiert. Auf globaler Ebene sind die Bahá'í zudem in dem sehr konstruktiven "Entwicklungsdialog der Weltreligionen" zwischen der Weltbank und den großen Religionen involviert.

Obwohl die Bahá'í-Gemeinde sich strikt aus der Parteipolitik heraushält, versucht sie doch zum öffentlichen Diskurs über die ihrer Meinung nach grundsätzlichen Fragen beizutragen. In den letzten Jahren hat z. B. die-Bahá'í Gemeinde durch ihre 180 gewählten nationalen Verwaltungsgremien versucht, weltweit die Regierungen dazu zu ermutigen, umfangreiche Programme zur Menschenrechtserziehung durchzuführen. In einigen Fällen haben die Nationalen Bahá'í-Räte konkrete Empfehlungen zur Einführung von Menschenrechts-Lehrplänen in Schulen abgegeben, in anderen haben sie versucht, das Bewusstsein der Regierungsvertreter dafür zu schärfen, dass Menschenrechtserziehung für die Förderung einer Kultur der Gerechtigkeit in ihrer Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Sobald eine derartige Kultur im Entstehen ist, können praktische Themen wie z. B. die Verwaltungsschulung und die Durchsetzung des Rechts, die gerechte Verteilung der Gemeinschaftsgüter und die Aufwertung von Personen und Gruppen, die bislang von den Wohltaten und Chancen der Gesellschaft ausgeschlossen waren, gezielt angegangen werden.

Letztlich glauben die Bahá'í, dass die Entstehung einer friedlichen und gerechten sozialen Ordnung, die durch moralische Prinzipien beseelt ist, von der grundsätzlichen Neubestimmung aller menschlichen Beziehungen abhängt; nämlich, zwischen Einzelpersonen, zwischen der Gesellschaft und der Natur, zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft und zwischen einzelnen Bürgern und ihren Regierungsinstitutionen. Insbesondere müssen überholte Vorstellungen von Macht und Autorität neu definiert werden. Es wird also eine grundlegende Neukonzeptionierung der sozialen Realität angestrebt, eine Realität, die sowohl im Geist wie auch in der Praxis das Prinzip der Einheit der Menschheit widerspiegelt. Anzuerkennen, dass „die Menschheit eine organische Einheit ist“, bedeutet zuzustimmen, dass jeder Mensch „als Pfand in diese Welt hineingeboren [wurde].“[iii]

Regieren wird in den Bahá'í-Schriften als ein Ausdruck von Treuhänderschaft verstanden, als Verwaltung eines anvertrauten Gutes. Bahá'u'lláh spricht von den Regierenden und Verwaltern der Gesellschaft als „Treuhänder“ oder als „Vertraute“ Gottes. Er ermahnt die Führer auch, dass die Schwachen und Armen „das Pfand Gottes in eurer Mitte sind.“[iv] Das Konzept der Treuhänderschaft deutet in gewisser Weise an, dass ein Bund besteht zwischen denjenigen, die Autorität inne haben und jenen, die Mitglieder eines sozialen Gemeinwesens sind, zu deren Schutz und Dienstleistung erstere verpflichtet sind. Folglich ist Vertrauenswürdigkeit ein unerlässliches Merkmal des Regierens; sie ist die Quelle der wahren Verantwortlichkeit. Bahá'u'lláh beschreibt die Vertrauenswürdigkeit als das „weite, breite Tor zur Ruhe und Sicherheit des Volkes,“ und als „das erhabenste Werkzeug für die Wohlfahrt der Welt“[v]. „Alle Bereiche der Macht, Größe und Wohlfahrt“, so betont Er, „ leuchten in ihrem Licht.“[vi]

Während Regieren oft mit Regierung gleichgesetzt wird, beinhaltet es tatsächlich doch viel mehr. Regieren findet auf allen Ebenen statt und umfasst die Art und Weise, wie offizielle Regierungen, Nichtregierungs-Gruppen, kommunale Organisationen und der private Sektor ihre Mittel und Angelegenheiten verwalten. Es sind vor allem drei Faktoren, welche die Effektivität eines jeden Regierungssystems bestimmen: die Qualität der Führung, die Charaktereigenschaften der Regierten, und die Art der Strukturen und Prozesse, die zur Autoritätsausübung und zur Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen eingesetzt werden.

In diesem Sinne bietet die Bahá'í-Gemeinde ihr eigenes Verwaltungssystem als Studienmodell an. Die Bahá'í legen großen Wert auf kooperative Entscheidungsfindung und übertragen die organisatorische Verantwortung für ihre Gemeindeangelegenheiten an frei gewählte verwaltende Räte auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Diese Form der Hierarchie überträgt die Entscheidungsfindung auf die niedrigst mögliche Ebene, wodurch ein einzigartiger Weg für die Graswurzelbeteiligung in Regierungsangelegenheiten geschaffen wird, während zugleich ein Maß an Koordination und Autorität entsteht, das weltweite Zusammenarbeit ermöglicht. Ein einzigartiges Merkmal des Bahá'í-Wahlprozesses ist die unbeschränkte Wahlfreiheit für die Wählerschaft durch das Verbot von Nominierungen, Kandidaturen und Wahlwerbung. Die Wahl in ein Bahá'í-Verwaltungsgremium gründet sich nicht auf persönlichen Ehrgeiz, sondern vielmehr auf nachgewiesene Befähigung, reife Erfahrung und verbindliche Dienstbereitschaft. Da das Bahá'í-System aufgezwungene Willkür oder Führerschaft eines Einzelnen nicht gestattet, kann es auch nicht als Wegbereiter zur Macht missbraucht werden. Die Entscheidungsgewalt liegt bei körperschaftlichen Gremien. Von allen Mitgliedern der Bahá'í-Gemeinde, unabhängig davon, welche Position sie vorübergehend in der Verwaltungsstruktur innehaben, wird erwartet, dass sie sich selbst in einem Lernprozess eingebunden betrachten, in dem sie sich um das Verstehen und Anwenden der Gesetze und Prinzipien ihres Glaubens bemühen. Bezeichnenderweise fand in vielen Teilen der Welt demokratisches Handeln erstmals innerhalb der Bahá'í-Gemeinde statt.

Die Fähigkeit einer jeden Institution, Veränderungen zu bewirken und zu verarbeiten, wie auch den vor ihr liegenden Herausforderungen kreativ zu begegnen, bringt die Entwicklung einer Anzahl wichtiger Fertigkeiten mit sich. Dazu gehören die folgenden: die Fähigkeit, eine klare Vorstellung der sozialen Realität und der in ihr agierenden Kräfte beizubehalten; die gründliche Bestandsaufnahme des Gemeindepotenzials; die freie und harmonische Beratung, sowohl intern wie auch mit ihrem Wahlbezirk; die Erkenntnis, dass jede Entscheidung sowohl eine materielle als auch eine geistige Dimension hat; die Fähigkeit, Entscheidungen in einer Art zu treffen, welche die Einheit der Institution bewahrt und fördert; das Vertrauen, den Respekt und die echte Unterstützung derjenigen zu gewinnen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind; die effektive Nutzung der Energien und vielfältigen Talente der Gemeindemitglieder, denen sie dient; die Integration der Vielfalt von Einzel- und Gruppeninitiativen in eine vorwärts gerichtete Entwicklung, die allen nützt; das Aufrechterhalten von Maßstäben der Gerechtigkeit und Fairness; das Umsetzen von Entscheidungen mit einer Offenheit und Flexibilität, die jede Spur diktatorischen Verhaltens vermeiden. Diese Konstellation von Fähigkeiten muss natürlich sowohl intellektuellen als auch moralischen Quellen entspringen.

In den Bahá'í-Schriften werden diejenigen, die im Regierungsdienst stehen, ermahnt, „mit völliger Loslösung, Reinheit und unabhängigen Sinnes, mit vollkommener Hingabe und reiner Absicht an ihre Pflichten heran[zu]gehen.“[vii] Sie erfahren persönliche Erfüllung nicht durch materielle Belohnung, sondern durch das „Ersinnen neuer Mittel und Wege, wie die Fortentwicklung des Volkes gesichert werden kann“, sowie durch das Erleben der „Freude beim Spenden der Gerechtigkeit“ und dem Trinken von „den Quellen eines wachen Bewusstseins und einer aufrechten Absicht“[viii]. Am Ende bestehen „Glück und Größe, Rang und Stufe, Freude und Frieden“ des Bediensteten nicht in „seinem persönlichen Reichtum, vielmehr in seinem hervorragenden Charakter, seinem hehren Entschluss, seiner umfassenden Bildung und seiner Fähigkeit, schwierige Probleme zu lösen.“[ix]

Die Herausforderung, Korruption im öffentlichen Leben zu überwinden, ist ihrem Wesen nach vielschichtig. Verwaltungstechnische Vorkehrungen und rechtliche Absicherungen werden, wie wichtig solche Maßnahmen auch sein mögen, weder beim Einzelnen noch bei Institutionen zu bleibenden Verhaltensänderungen führen. Denn Regieren ist im Wesentlichen ein moralisches und geistiges Unterfangen, dessen Reichweite im menschlichen Herzen beheimatet ist. Daher kann nur dann, wenn das innere Leben der Menschen verwandelt wird, die Vision einer „wahren Zivilisation des Charakters“[x] zur Realität werden.

 

i Bahá’u’lláh, Botschaften aus Akká, Hofheim 1982, 8:53

ii Botschaften, 6:36

iii Bahá'í International Community, Entwicklungsperspektiven für die Menschheit, Hofheim 42000, S. 9

iv Bahá’u’lláh, Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs , Hofehim 41999, 118:5

v Botschaften, 4:17 u. 8:44

vi a.a.O., 4:17

vii Vertrauenswürdigkeit, Textzusammenstellung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit über eine Kardinaltugend der Bahá'í, Hofheim 1990, S. 59

viii ‘Abdu’l-Bahá, Das Geheimnis göttlicher Kultur, Oberkalbach 1973, S. 27 u. 29

ix a.a.O., S. 30f

x a.a.O., S. 61

 

* Socially Responsible Enterprise Restructuring

Der Beitrag der globalen Zivilgesellschaft zur Stärkung der Vereinten Nationen und Reform der Weltgesellschaft

Der Beitrag der globalen Zivilgesellschaft zur Stärkung der Vereinten Nationen und Reform der Weltgesellschaft

New York—8 September 2000

Ansprache gehalten auf dem Nachmittagsplenum - Freitag, 8. September 2000 - von Techeste Ahderom, Mit-Vorsitzender des Millennium-Gipfels vom 6.-8. September 2000 in New York und Sprecher des NGO-Forums, (ganzer Redetext)

Meine Damen und Herren im Vorstand, geehrte Staats- und Regierungschefs, Herr Generalsekretär, Exzellenzen,

Im vergangenen Mai versammelten sich Repräsentanten der Zivilgesellschaft und  Nichtregierungsorganisationen aus der ganzen Welt in diesem Saal, um über die gemeinsame Zukunft der Menschheit und insbesondere über die Rolle der Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert zu beraten.

Die Zusammenkunft nannte sich ”Das Millenium-Forum”, und nach der großen inhaltlichen und geografischen Bandbreite ihrer Teilnehmer zu beurteilen war es eine der vielfältigsten und bedeutungsvollsten Versammlungen von Organisationen der Zivilgesellschaft, die je abgehalten wurde.

Das Forum war von Bedeutung wegen seiner Bemühungen, den Prozess der Bildung von Netzwerken und Koalitionen unter den NGOs zu verschiedenen Problembereichen zu beschleunigen. Dieser Prozess hat sich als eine starke Kraft für den Wandel und für soziales Handeln in der heutigen Welt erwiesen. Unter anderem dachten wir darüber nach, wie man einen gerechten und dauerhaften Frieden errichtet, wie man die Armut ausrottet, wie man die Menschheit auf den Weg einer nachhaltigen Entwicklung bringt und dabei unsere gemeinsame Umwelt schützt, wie wir dahin kommen, dass die Menschenrechte immer und überall von allen Nationen eingehalten werden und wie wir den drängenden Herausforderungen der Globalisierung begegnen können.

Schließlich einigten wir uns trotz unserer großen Verschiedenheit auf eine machtvoll formulierte ”Agenda des Handelns”. Sie bietet eine zuversichtliche Vision für die Zukunft der Menschheit und skizziert eine Reihe von konkreten Schritten, welche die Vereinten Nationen, die Regierungen und die Mitglieder der Zivilgesellschaft selbst unternehmen können, um die Probleme anzugehen, mit denen die Menschheit heute weltweit konfrontiert wird.

Nachdem ich die Reden hier während der vergangenen drei Tage gehört habe, muss ich sagen, dass unsere Vision und unser Handlungsplan mit vielem von dem übereinstimmen, was hier gesagt wurde.

Ich persönlich fühle mich dadurch ermutigt und denke, dass dieser historische Gipfel sehr wohl dafür in Erinnerung bleiben könnte, dass er die Tür aufgestoßen hat zu einer lang erwarteten Ära des Friedens, der Gerechtigkeit und des Wohlstands für die ganze Menschheit. Diese neue Ära wird selbstverständlich konkrete Taten erfordern und nicht nur Worte.

Wir in der Zivilgesellschaft stehen bereit, um mit Ihnen und Ihren Regierungen Seite an Seite zusammen zu arbeiten, um in einer starken Partnerschaft diese neue Welt zu erschaffen. Gleichzeitig steht die Zivilgesellschaft auch dafür bereit, Sie an Ihre Verpflichtung zu erinnern, wenn Sie sich nicht an Ihr Wort halten.

Während der gesamten Geschichte – von der Abschaffung der Sklaverei bis zur Anerkennung der Gleichwertigkeit von Mann und Frau – haben die meisten großen sozialen Bewegungen nicht bei den Regierungen, sondern bei den einfachen Menschen begonnen.

Selbst die Idee, eine internationale Organisation zur Beendigung von Krieg und der Errichtung eines dauerhaften Friedens zu schaffen, hatte ihren Ursprung in der Zivilgesellschaft. Vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs setzten sich die Führer einer Reihe von internationalen NGOs ein für die Errichtung eines ”Gemeinwesens der Völker”, eines ”Völkerbunds”, in dem alle Staaten in kollektiver Sicherheit miteinander verbunden wären. Dieselben Organisationen unterstützten aktiv die Arbeit des Völkerbunds in den späten zwanziger Jahren.

1945 spielte die Zivilgesell­schaft wieder eine wichtige Rolle bei der Ausformung vieler Artikel von zentraler Bedeutung, die man in der Charta der Vereinten Nationen findet, besonders im Bereich der Menschenrechte.

In jüngerer Zeit haben NGOs eine führende Rolle bei der Gestaltung und Unterstützung eines internationalen Strafgerichtshofes gespielt sowie in der Bewegung für einen Schuldenerlass und in der internationalen Bewegung für das Verbot von Landminen. Ebenso waren NGOs führend bei der Schaffung von Partnerschaften zwischen den UN und den Regierungen wie z.B. im NGO-Vorbereitungsausschuss für die Kommission für nachhaltige Entwicklung.

Mehrmals hat Generalsekretär Kofi Annan betont, dass die Beteiligung der Zivilgesellschaft an den Vereinten Nationen und die Zusammenarbeit mit ihr keine Frage der Wahl ist, sondern eine Notwendigkeit.

Wir begrüßen seine Bemühungen, eine wirkungsvolle Partnerschaft der Zivilgesellschaft mit den Vereinten Nationen zu ermöglichen. Wir danken ihm insbesondere dafür, die UN zu öffnen für das Millennium-Forum im vergangenen Mai. Wie viele wissen, stammte die Idee für jenes Forum im Wesentlichen von Kofi Annan, als er vor etwa drei Jahren zu einer ”begleitenden Versammlung der Bürger” zu diesem Gipfel aufrief. Und wir danken Kofi Annan dafür, dass er die Erklärung des Millenium-Forums diesem UN-Gipfel als UN-Dokument zur Verfügung gestellt hat.

Das Millenium-Forum selbst entstand aus seit langem etablierten NGO-Ausschüssen und Netzwerken heraus. Die Pläne begannen mit der Konferenz über Nichtregierungsorganisationen (CONGO) und bezogen das UN-DPI/NGO-Exekutivkommitee mit ein. Wir wollten auf eine beeindruckende Reihe von weltweiten NGO-Versammlungen aufbauen, wie dem Haager Friedensappell, der internationalen Konferenz der NGOs in Seoul, der Konferenz der globalen Zivilgesellschaft und der Millenniumskonferenz der Jungend wie auch allen großen weltweiten NGO-Foren, die parallel zu den großen wichtigen UN-Konferenzen des letzten Jahrzehnts abgehalten wurden, wie u.a. dem Erdgipfel und der Frauenkonfe­renz in Beijing.

Wir bitten Sie, die Erklärung des Millennium-Forums sorgfältig zu studieren.

Ich glaube, Sie werden sehen, dass wir die Regierungen hauptsächlich dazu aufrufen, die eingegangenen Verpflichtungen und die Prinzipien, auf die sie sich auf den großen weltweiten Konferenzen der 90er Jahre geeinigt haben, einzuhalten. Außerdem ersuchen wir um vermehrten Zugang der NGOs zur Vollversammlung der Vereinten Nationen und ihren wichtigsten Ausschüssen.

Erlauben Sie mir, Ihnen einige wenige Höhepunkte vorzutragen, wozu das Forum in seiner Erklärung aufgerufen hat.

Die Teilnehmer des Forums sind der Ansicht, dass es eine grobe Verletzung der Menschenrechte darstellt, wenn eine Milliarde Menschen hungrig zu Bett geht. Die Erklärung verlangt einen sofortigen Schuldenerlass. Sie verlangt auch nach einem ”Fonds zur weltweiten Ausrottung der Armut”, der darauf abzielt, den Armen Zugang zu Krediten zu verschaffen.

Zum Thema ”Globalisierung” nahm das Forum den Standpunkt ein, dass sie einerseits ”bedeutende Möglichkeiten für Menschen bietet, Verbindung miteinander aufzunehmen, sich auszutauschen und voneinander zu lernen”. Andererseits vermehrt sie in ihrer derzeit ungeregelten Form ”die Ungerechtigkeit zwischen Staaten und innerhalb von Staaten, untergräbt lokale Traditionen und Kulturen, verschärft den Unterschied zwischen arm und reich und marginalisiert dadurch eine große Anzahl von Menschen in städtischen und ländlichen Gebieten.

Die Erklärung drängt die Regierungen dazu, ernsthaft ”die Verpflichtung einzugehen, die globalen Finanzstrukturen neu zu strukturieren, und zwar auf den Prinzipien von Gerechtigkeit, Transparenz, Verantwortlichkeit und Demokratie.” Sie bringt klar zum Ausdruck, dass die Vereinten Nationen die vorrangige internationale Organisation sein sollte, die die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds und die Welthandelsorganisation beaufsichtigt.

Die Erklärung fordert auch, dass die Vereinten Nationen gestärkt und demokratisiert werden, denn als wichtigste globale Institution in der heutigen Welt ist sie die einzige, die derzeit in der Lage ist, den internationalen Rahmen und die Koordination bereit zu stellen, die benötigt werden, um die vor uns liegenden großen Herausforderungen anzugehen.

Insbesondere fordert das Forum ein gestärktes System zur Friedenssicherung, verbunden mit der Einrichtung einer ständigen Polizei- und Friedenssicherungstruppe. Es verlangt auch nach einem reformierten Sicherheitsrat, der gestärkt ist durch eine größere Anzahl von Mitgliedern, demokratischere Vorgehensweisen und schließlich die Abschaffung des Vetorechts. Es verlangt auch die Formulierung eines vorläufigen Vorschlags zur globalen Abrüstung, der in einer Sondersitzung der Vollversammlung diskutiert werden sollte.

In diesen Tagen weltweiter gegenseitiger Abhängigkeit sind die so weit wie möglich gestärkten Vereinten Nationen unser bester Schutz vor globalem Unheil, sei es wirtschaftlicher oder ökologischer Natur, sei es der Ausbruch einer neuen Epidemie oder ein neuer großer Konflikt.

Abschließend wäre noch zu sagen: Die Erklärung des Millennium-Forums versucht die Hoffnungen und Erwartungen der Völker der Welt zum Ausdruck zu bringen. In den einleitenden Absätzen steht folgendes:

”Unsere Vision ist die einer Welt, die auf den Menschen ausgerichtet und wahrhaft demokratisch ist, an der alle Menschen voll teilhaben und in der sie ihr Schicksal selbst bestimmen. In unserer Vision sind wir alle eine menschliche Familie, in all unserer Mannigfaltigkeit. Wir leben in einer gemeinsamen Heimat und teilen eine gerechte, dauerhafte und friedvolle Welt, die geleitet wird von den universalen Prinzipien der Demokratie, Gleichheit, Partizipation, Freiwilligkeit, Nichtdiskriminierung und Beteiligung aller.”

Welt-Friedensgipfel zur Jahrtausendwende: Eine Baha'i-Perspektive

Welt-Friedensgipfel zur Jahrtausendwende: Eine Baha'i-Perspektive

Vorgetragen von Dr. Albert Lincoln, Generalsekretär der Baha'i International Community

New York—29 August 2000

Herr Generalsekretär, Exzellenzen, verehrte Teilnehmer, meine Damen und Herren, vor über einem Jahrhundert hat eine ehrwürdige religiöse Gestalt, verbannt auf einen weit entfernt gelegenen Vorposten des Osmanischen Reiches, eine Vision zum Ausdruck gebracht, die unsere Überlegungen auf dieser historischen Versammlung inspirieren könnte. An einen seiner Anhänger schrieb Bahá’u’lláh diese Worte:

“Unsere Hoffnung ist, dass sich die religiösen Führer der Welt und ihre Herrscher vereint für die Neugestaltung dieses Zeitalters und die Wiederherstellung seiner Wohlfahrt erheben werden. Lasst sie, nachdem sie über seine Nöte nachgedacht haben, zusammen beraten und nach sorgsamer, reiflicher Überlegung einer kranken, schwer leidenden Welt das Heilmittel darreichen, dessen sie bedarf.”

Unsere Welt macht schnelle und weitreichende Veränderungen durch und bringt die Menschheit immer enger zusammen in etwas, das manche als globales Dorf bezeichnet haben. Kulturen und Völker, die während des größten Teils der Geschichte isoliert voneinander gelebt haben, stehen sich nun gegenüber und gehen täglich miteinander um. Leider haben sozialer Fortschritt und vermehrte Weisheit und Verständnis mit dem materiellen Fortschritt nicht Schritt gehalten, so dass unser globales Dorf kein glücklicher und friedlicher Ort ist. Tatsächlich ist für ihre verantwortlichen Führer die Zeit gekommen, zusammen zu beraten und über die Zukunft nachzudenken.

Unsere Kinder sind die Zukunft

Abgesehen von den aktuellen Krisen und Konflikten, droht eine der größten Gefahren, mit denen die Menschheit konfrontiert wird, von einer Generation von Kindern, die in einem moralischen Vakuum aufwachsen. Wir fühlen mit den Kindersoldaten in Afrika, den Kinderprostituierten in Asien und den verzweifelten Straßenkindern in den zahllosen Slums und Flüchtlingslagern der Welt - allen Opfern sowohl geistiger als auch materieller Armut. Aber wir dürfen auch nicht die Millionen von jungen Menschen vergessen, die in Gesellschaften aufwachsen, deren traditionelle Wertesysteme zerstört sind, und diejenigen, die seit Generationen durch eine dogmatisch materialistische Erziehung geistiger Erziehung beraubt wurden. Und falls wir es uns bei der Suche nach Ursachen oder Heilmitteln zu einfach machen, sollten wir auch an jene jugendlichen Produkte des permissiven Liberalismus des Westens denken, von denen einige genauso schwer bewaffnet und gewaltbereit sind, wie ihre Altersgenossen in weniger reichen Ländern.

Jedes Kind ist potenziell das Licht der Welt – und ihre Finsternis. Die Lampen dieser Seelen zu entzünden ist eine Verantwortung, die wir gemeinsam übernehmen müssen, wenn die Zivilisation gedeihen soll. Kinder dürfen des Lichtes der moralischen Erziehung nicht beraubt bleiben, besonders Mädchen nicht, da sie die Werte an nachfolgende Generationen weitergeben. Tatsächlich sind gut ausgebildete Frauen einer der wichtigsten Schlüssel zum Weltfrieden.

Was wird unsere Antwort sein?

Hier, meine ich, ist eine Herausforderung, auf die wir, die wir uns hier auf diesem Gipfel versammelt haben, antworten können und müssen.

Abgesehen von der bemerkenswerten Reife im interreligiösen Dialog, markiert dieses Treffen religiöser Führer im Saal der Vollversammlung der Vereinten Nationen am Vorabend des Millennium-Gipfels der Staats- und Regierungschefs der Welt einen historischen und entscheidenden Schritt nach vorn bei der Schaffung des nötigen gegenseitigen Respekts und der Kooperation zwischen religiösen und politischen Führern. Das sind die Voraussetzungen, ohne die der Weltfrieden und das Wohlergehen der Menschheit wohl unerreichbar sind.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Wir vertreten weder das Verwischen von Grenzen noch eine Mischung von Religion und Politik. Die harmonische Zusammenarbeit dieser zwei Gruppen von Führungspersönlichkeiten ist umso wichtiger, weil ihre Rollen sich zugleich von einander abheben und ergänzen.

Die Rolle der Religion

Gerechterweise muss man zugeben, dass im Laufe der Geschichte den Menschen viel Unrecht und Leid im Namen der Religion zugefügt wurde. Sogar heute noch trägt religiöse Propaganda und Verhetzung in vielen Regionen der Welt zu Angst, Hass und Kampfhandlungen bei. In den Bahá’í-Schriften steht, dass es besser wäre, ohne Religion zu sein, wenn sie zu Feindschaft führt.

Wenn man allerdings die Lehren der Stifter der großen Religionen ohne Vorurteil betrachtet, bieten sie keinerlei Unterstützung für die Auseinandersetzungen und Vorurteile, die den größten Teil der Menschheit erschüttern. Intoleranz und Fanatismus stellen allenfalls Verzerrungen echter religiöser Werte dar.

Bahá’u’lláh beschreibt die Religion als soziale Kraft und erklärt: “Die Religion ist das wichtigste Mittel zur Begründung von Ordnung in der Welt und zur Befriedung aller, die darin wohnen.” “Das Ziel der Religion”, bekräftigt er ”besteht darin, Einheit und Eintracht unter den Völkern der Welt zu stiften; macht sie nicht zur Ursache für Zwist und Streit.”

Der wahre und dauerhafte Frieden, den wir alle anstreben, hängt von der Einheit ab. Wenn wir vereint sind – eine Einheit, die Mannigfaltigkeit begrüßt und wertschätzt – können alle Probleme gelöst werden. Zunächst einmal würde die gewissenhafte Anwendung der Lehre, dass wir andere so behandeln sollten, wie wir selbst behandelt werden möchten – ein Kernprinzip aller Religionen – eine grundlegende Wandlung in der Welt bewirken.

Um eine konstruktive Rolle bei der Gestaltung der Zukunft der Menschheit zu spielen, müssen sich religiöse Führer auf den Kern der positiven moralischen Werte konzentrieren, die alle religiösen Traditionen gemeinsam haben, statt auf deren Unterschiede. Jeder von uns mag glauben, seine Religion sei die beste, aber wir müssen die geistige Wahl anderer akzeptieren, selbst wenn wir der Meinung sind, dass sie irren. Wenn die Religionen unbedingt miteinander konkurrieren müssen, dann sollte jede danach streben, sich bei der Führung von Menschen zu friedlicher Koexistenz, zu Rechtschaffenheit und gegenseitigem Verständnis auszuzeichnen.

Die Religion hat die Macht, die Herzen und den Geist der Menschen in Bewegung zu versetzen und sie vorwärts zu bewegen auf den Pfad zu Frieden und gegenseitigem Verständnis. Sie hat eine moralische Autorität und eine ethische Empfindsamkeit, welche die Ressourcen und die Fachkompetenz von Regierungen und der Zivilgesellschaft ergänzt. Tatsächlich stand die Religion im Zentrum vieler großer sozialer Bewegungen der Vergangenheit. Es ist die besondere Rolle der religiösen und geistigen Führer weit vorauszuschauen, nicht vom Elfenbeinturm aus, sondern aus einer Perspektive, die von unmittelbaren Zwängen und den oftmals partisanenähnlichen Kämpfen des politischen Alltags losgelöst ist.

Unsere verstörte Welt bedarf dringend eines moralischen Kompasses, der sich weder an vergänglichen Modetrends noch am durchdringenden Materialismus des modernen Zeitalters orientiert. Die Tatsache, dass wir uns zu diesem Gipfel versammelt haben, zeigt, dass die Welt sich dieses Bedürfnisses bewusst geworden ist, sowie der Möglichkeiten, die den religiösen Traditionen der Welt innewohnen. Sollen wir uns nicht zusammen erheben, um diese Herausforderung anzunehmen? Und wenn die Aufgabe uns gewaltig erscheint, sollen wir an unsere Kinder denken, unser wertvollstes Pfand.

Besondere Empfehlungen

Die vorgeschlagenen “International Advisory Councils of Religious and Spiritual Leaders” (Internationale Beratungsräte der religiösen und geistigen Führer) sollten dazu dienen, die Kraft der Religion zur Schaffung einer besseren Welt für alle, auch für die Kinder, zu kanalisieren. Die regionalen Advisory Councils könnten demselben Zweck auf örtlicher und nationaler Ebene dienen. Diese neuen Einrichtungen haben ein einmaliges Potenzial für konzertiertes und nachhaltiges Handeln durch religiöse Führer zur Unterstützung der Prozesse, die zum Weltfrieden führen. Deshalb haben wir sie ins Zentrum unserer besonderen Empfehlungen gestellt.

Die Mitglieder der Advisory Councils sollen aus möglichst vielen Teilen der menschlichen Gesellschaft stammen und alle religiösen und geistigen Traditionen der Welt vertreten. Wir empfehlen, dass die Advisory Councils ihre Arbeit auf der Basis von Beratung leisten und ihre Entscheidungen so weit wie möglich einstimmig treffen. Wir denken auch, dass die Wahl oder Ernennung einer ständigen Leitung lieber vermieden werden soll.

Es wäre eine wesentliche Aufgabe bei allen Funktionen der Advisory Councils, die grundsätzlichen Werte, die allen Religionen und geistigen Traditionen gemeinsam sind, festzustellen. Das daraus resultierende gemeinsame Verständnis würde eine feste Grundlage bilden für gemeinsame Bemühungen im Geiste des Dienstes an der ganzen Menschheit.

Eine ihrer dringendsten Aufgaben wäre es, mit den passenden Organisationen der UN wie der UNESCO, UNICEF, UNDP und der Weltbank zusammen zu arbeiten, um den Bedarf für geeignete Lehrpläne und Erziehungssysteme für die moralische Erziehung und Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen anzugehen. Die regionalen Advisory Councils könnten zu diesem Zweck dabei behilflich sein, auf nationaler und regionaler Ebene Beratungsprozesse zu fördern, an denen Erziehungsexperten und Vertreter der religiösen und geistigen Traditionen der betreffenden Bevölkerungsgruppen beteiligt sind.

Die Advisory Councils könnten aufgefordert werden, Vermittlerdienste anzubieten oder zu organisieren, wenn es Konflikte oder potentielle Konflikte gibt, bei denen es um religiöse Differenzen geht oder bei denen religiöse oder geistige Führung wirkungsvoll wäre.

Als Beitrag zum Wiederaufbau von Gesellschaften, die durch vorangegangene Konflikte zerstört wurden, könnten sie auch die Entwicklung und Anwendung von Programmen, die Versöhnung herbeiführen und Vertrauen wieder herstellen, empfehlen und fördern.

Das Mandat des International Advisory Council sollte das Recht einschließen, den gesamten Umfang der Politik, Programme und Prozesse der Vereinten Nationen zu überprüfen und hierzu Rat zu geben. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass die UN und ihre Vertretungen trotz ihrer vielen beeindruckenden Leistungen oft eine materialistische Sicht der Welt widerspiegeln und begünstigen, die von den geistigen Werten, an denen die Mehrheit der Menschheit festhält, abweicht. Wir meinen, dass die Eintracht in der Arbeit der Vereinten Nationen und die Effektivität ihrer Programme durch einen Ansatz, der geistiger ist und auf den gemeinsamen Grundwerten der religiösen Traditionen der Welt fußt, nur gesteigert wäre.

Schluss

Wenn die Menschheit der Herausforderung, den Weltfrieden zu errichten, gerecht werden soll, muss die geistige Energie, die in jedem von uns latent vorhanden ist, freigesetzt und auf diese edle Aufgabe gerichtet werden. Die Religion kann die Vision liefern und die geistige Energie entfesseln, die benötigt wird, um die Menschheit hin zu einer neuen Weltordnung zu führen, die ihres Schicksals würdig ist.

Ein globales Gemeinwesen auf der Grundlage von Einheit in Mannigfaltigkeit aufzubauen, das sowohl von Liebe als auch von Gerechtigkeit belebt wird, ist keine einfache Aufgabe. Aber wir müssen sie angehen, für uns selbst, für die Kinder von heute und für die noch ungeborenen Generationen. Während wir dies tun, können wir uns sicher auf den Beistand des souveränen Schöpfers des Universums verlassen, mit welchem Namen wir Ihn auch immer anrufen.

Unsere Rolle als Teilnehmer an dieser historischen Versammlung ist sowohl einfach als auch herausfordernd. Lassen Sie mich schließen mit diesem Auszug aus den Bahá’í-Schriften:

“Beratet in größter Freundlichkeit und im Geiste vollkommener Brüderlichkeit, und verbringt die kostbaren Tage eures Lebens damit, die Welt zu bessern.”

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