Korruption überwinden und Integrität in öffentlichen Institutionen schützen: Eine Baha'i-Perspektive

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Korruption überwinden und Integrität in öffentlichen Institutionen schützen: Eine Baha'i-Perspektive

The Hague, Netherlands—28 May 2001

Da die Menschheit aus einem Jahrhundert des Aufbruchs und erstaunlicher Veränderungen hervorgeht, wird ihr Bedarf an moralischer und geistiger Erneuerung immer offensichtlicher. Die Tatsache, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Dunkelheit wie auch des Lichtes war, das sowohl die Neigung zu menschlicher Verderbtheit wie auch zu menschlichen Errungenschaften aufdeckte, bildet die Grundlage für die Verwirrung, die unser heutiges Zeitalter durchdringt. Eine wachsende moralische Desorientierung bedroht die sozialen Institutionen und die grundlegenden Bande, die die zwischenmenschlichen Beziehungen prägen. Der wachsende Materialismus, der sich an die Stelle eines transzendentalen Lebensverständnisses gesetzt hat, ist aus Bahá'í-Sicht verantwortlich für die Skepsis, Entfremdung und Anomie, die das heutige Dasein charakterisieren.

Vor mehr als einem Jahrhundert warnte Bahá'u'lláh, der Stifter des Bahá'í-Glaubens, vor der unvermeidlichen geistigen und moralischen Austrocknung, die durch die Abwertung der Religion entstehen würde. „In Wahrheit“, so schrieb Er, „ist die Religion ein strahlendes Licht und eine unerschütterliche Festung für den Schutz und die Wohlfahrt der Völker der Welt... Würde die Lampe der Religion verdunkelt werden, so wären Chaos und Verwirrung die Folge und die Lichter der Redlichkeit und Gerechtigkeit, der Ruhe und des Friedens würden nicht länger scheinen[i].“

Soziale Fortschritte entstehen, wie wir wissen, durch Ideale und gemeinsame Überzeugungen, die eine Gesellschaft zusammenschmieden. Bedeutsame soziale Umwälzungen entspringen sowohl der Entwicklung von Qualitäten und Einstellungen, die konstruktive Muster menschlicher Interaktion fördern, wie auch dem Erwerb technischer Möglichkeiten. Wahrer Wohlstand – ein Wohlergehen, das auf Frieden, Zusammenarbeit, Selbstlosigkeit, Würde, rechtschaffenes Verhalten und Gerechtigkeit gegründet ist, – strömt aus dem Licht des geistigen Bewusstseins und der Tugend wie auch aus  materiellen Errungenschaften und Fortschritten.

Es ist eine Herausforderung, die zentralen Grundsätze der Religion von den verzerrten Darstellungen, die fälschlicherweise in ihrem Namen geäußert werden, zu unterscheiden. Religion ist eine unentbehrliche Quelle des Wissens und der Motivation – ein Springquell von Werten, Einsichten und Energie, ohne die ein sozialer Zusammenhalt und kollektive Handlungen schwierig, wenn nicht sogar unmöglich sind. Durch religiöse Lehren und deren moralische Anleitungen haben große Teile der Menschheit gelernt, ihre niederen Neigungen zu beherrschen und Eigenschaften zu entwickeln, die soziale Ordnung und kulturelle Weiterentwicklung fördern. Solche Qualitäten wie Vertrauenswürdigkeit, Mitgefühl, Duldsamkeit, Treue, Großzügigkeit, Demut, Mut und die Bereitschaft, für das Gemeinwohl Opfer zu bringen, sind zu Bestandteilen der zwar unsichtbaren aber doch wesentlichen Grundlagen für ein fortschreitendes Gemeinschaftsleben geworden. Religion stellt die Ziegelsteine und den Mörtel der Gesellschaft dar, die ethischen Richtlinien und Visionen, welche die Menschen zu Gemeinden zusammenführen und die der Existenz des Einzelnen wie auch der Gesellschaft eine erkennbare Richtung und Bedeutung verleihen.

Fraglos hängt die Entwicklung der Fähigkeiten, die zur Bildung einer sozialen, wirtschaftlichen und moralischen Gesellschaft notwendig sind, vom Verstand wie auch vom Geist ab. Zivilisierende Tugenden wie Ehrlichkeit, Pflichtgefühl und Loyalität, die für den menschlichen Fortschritt so wesentlich sind, werden durch die Sprache des Herzens und die Stimme des Gewissens kultiviert. Rechtliche Vorschriften und Strafen sind, obwohl wichtig, in ihrer Wirksamkeit begrenzt. Sich der geistigen Wurzeln zu bedienen, die den Kern menschlicher Identität und Absicht bilden, heißt denjenigen Impuls nutzen, derwahre soziale Wandlung sicherstellen kann. Dementsprechend vertreten die Bahá'í den Standpunkt, dass das Entstehen öffentlicher Institutionen, die Vertrauen schaffen und frei von Korruption sind, eng mit einem Prozess moralischer und geistiger Entwicklung verknüpft wird. Bahá'u'lláh bestätigt: „Solange sich der Mensch seinen Trieben und Leidenschaften hingibt, werden Sünde und Verbrechen vorherrschen.“[ii]

Die Bahá'í betrachten den gesamten Zivilisationsvorgang als geistigen Prozess, der dem schrittweisen Erwachen der moralischen und kreativen Fähigkeiten der Menschen entspricht. Die Schaffung eines „korruptionsfreien“ öffentlichen Klimas hängt demzufolge von der Förderung moralischer Fähigkeiten beim Einzelnen, in Gemeinden und in sozialen Institutionen ab.

Wie können moralische Fähigkeiten aufgebaut werden? Welches sind die praktischen Strategien, die eine Gesellschaft annehmen kann, um innerhalb der Bevölkerung konstruktiv-soziale Akteure hervorzubringen, die sich für ein durch Dienst und Tugendhaftigkeit geprägtes Leben entscheiden? Erziehung und Bildung sind unverzichtbare Werkzeuge. Die Tatsache, dass die Weltgemeinschaft ihrem Wesen nach pluralistisch ist, sollte Regierungen und internationale Einrichtungen nicht davon abhalten, der Frage moralischer Entwicklung ernsthafte Aufmerksamkeit zu schenken. Die wachsende Zusammenarbeit zwischen religiösen Gemeinschaften, Nichtregierungsorganisationen und öffentlichen Einrichtungen hinsichtlich wichtiger sozialer Herausforderungen beweist, dass wirksames Handeln möglich ist.

Die Bahá'í-Gemeinschaft hat auf dem Gebiet der ethischen Führung und der moralischen Erziehung bereits eine Vielzahl von Initiativen ergriffen, obwohl diese ihrem Umfang nach noch recht bescheiden sind. Diese Programme nehmen sowohl wissenschaftliche wie auch religiöse Ressourcen zur Hilfe, um dadurch die Konzepte, Werte, Einstellungen und Fähigkeiten, die für die Schaffung eines von Rechtschaffenheit und Integrität geprägten Ethos notwendig sind, zu kultivieren. Die Erarbeitung von pädagogischen Ansätzen und Methoden zur systematischen Förderung moralischer Entwicklung gehört zu den zentralen Bemühungen der Bahá'í.

Die Núr-Universität, die zweitgrößte private Einrichtung höherer Bildung in Bolivien, verbindet akademisches Wissen sowohl mit praktischen Erfahrungen wie auch mit ethischer Erziehung, wobei besonderes Gewicht auf Dienste an der Gemeinschaft, soziale Gerechtigkeit und Achtung vor menschlicher Vielfalt gelegt wird. Núr wurde zum Großteil mit dem Ziel gegründet, Führungskräfte heranzubilden, die das Zusammenwirken von individueller und sozialer Transformation begreifen. Ihre Ausbildungsphilosophie basiert auf  Begriffen und Prinzipien aus den Bahá'í-Lehren. Das Moral Leadership Programm der Núr Universität lehrt die Teilnehmer, dass es ihre Pflicht ist, nach moralischen Grundsätzen zu suchen, diese anzunehmen und sie im Leben umzusetzen. Leadership versteht sich hier als eine Verantwortung, die von allen Mitgliedern der Gesellschaft ausgeübt wird und die nach der Entwicklung besonderer moralischer Fähigkeiten verlangt. Grundlage für diese Fähigkeiten ist das verbindliche Bemühen darum, auf allen Gebieten menschlichen Handelns nach Wahrhaftigkeit zu streben und diese anzuwenden. Dieses Programm hat bereits etwa 400 ländliche Gemeinden in Bolivien und mehr als ein Dutzend lateinamerikanischer Staaten erreicht.

Mit dem Just Governance Program bietet die Núr-Universität eine Ausbildung für Angestellte im öffentlichen Dienst und in der Regierung sowie für Mitglieder von Organisationen auf Gemeindeebene an. Dieses Programm versucht, gute Regierungsformen zu fördern, indem die verschiedenen Dimensionen eines moralischen Führungsstils untersucht werden, die administrativen und entscheidungstragenden Fähigkeiten im öffentlichen Bereich gestärkt werden, und der Dialog über die zukünftige Entwicklung der bolivianischen Gesellschaft unterstützt wird. Viele regionale Regierungsstellen und lokale Behörden haben an dem Programm teilgenommen. Eine ähnliche Initiative bezieht etwa 5000 Schüler aus staatlichen Gymnasien, in die Förderung von Jugend Leadership ein. Das Programm zielt darauf, den Anteil Jugendlicher an Straftaten, Gewalt, Alkohol- und Drogenkonsum zu begrenzen, indem es die jungen Leute für aktiven Gemeindedienst vorbereitet. Die Núr-Universität arbeitet ebenfalls daran, Schullehrer als Gemeindeentwicklungshelfer auszubilden. Um einige Zahlen zu nennen: Bis jetzt haben mehr als 2000 Lehrer aus Bolivien, Argentinien und Ecuador an diesem Programm teilgenommen, das von seinen Teilnehmern sehr positiv aufgenommen wurde. Einer der Studenten schrieb: „Das Studium dieses Kurses hat mir vor allem geholfen zu verstehen, wie wichtig es ist, mein Leben nach Prinzipien auszurichten. Jetzt versuche ich den Bedürftigen zu helfen, ohne Anerkennung zu erwarten, denen zu vergeben, die mich beleidigt haben, ohne Groll zu hegen, und mit meinen Mitmenschen das, was ich gelernt habe, zu teilen und dadurch beide Seiten glücklicher zu machen.“

Das vom Human Plenitude Program in Brasilien durchgeführte Projekt „Gerechtigkeit in der Erziehung“ ist ein weiteres Unterfangen der Bahá'í mit dem Ziel, einen ethischen Führungsstil in der Regierung zu fördern. Das brasilianische Bildungsministerium hat in Zusammenarbeit mit der Nationalen Vereinigung der Richter und Staatsanwälte ein Weiterbildungsprogramm genehmigt, das von Human Plenitude Mitarbeitern entwickelt wurde und sich an ca. 6000 Juristen richtet, die direkt mit solchen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammenarbeiten, die schon einmal mit der brasilianischen Justiz in Berührung gekommen sind. Die einführende Unterrichtseinheit dieser Ausbildungsinitiative besteht aus Materialien, die Ethik und Werte zum Schutz von Kindern und Jugendlichen ansprechen.

Unter der Schirmherrschaft des Royaumont Prozesses der Europäischen Union hat die Internationale Bahá'í-Gemeinde eine mehrjährige Initiative zur moralischen Erziehung durchgeführt mit dem Ziel, ethnische Harmonie und sozialen Zusammenhalt in verschiedenen südosteuropäischen Ländern zu fördern. Unter Einbeziehung der Happy Hippo Show, eines einzigartigen, auf Schauspiel basierenden, interaktiven Fernseh- und Radioprogramms, das mit dem Ziel entwickelt wurde, moralische und ethische Themen zu erarbeiten, hat die Internationale Bahá'í-Gemeinde Trainingsseminare für Ausbilder, Medienvertreter, Journalisten und Nichtregierungsorganisationen durchgeführt. Das Programm ist sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei Regierungsvertretern sehr populär geworden, da es Beispiele anbietet, wie man sich den Problemen des Lebens durch die Erarbeitung positiver Lösungen stellen kann.

Ein Hauptthema dieses Projektes ist die Entwicklung konstruktiver Wege, um Konflikte und Vorurteile zwischen Gruppen zu überwinden. Der Erfolg der Trainingsseminare in Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Mazedonien, Kroatien, Ungarn, Rumänien und Slowenien führte zu mehreren Nachfolgeprojekten. Radio- und Fernsehprogramme in Kroatien und Bulgarien, wie auch Lehrpläne in rumänischen Grundschulen nutzen mittlerweile die Methoden dieser Show, um darzustellen, dass die Moral für soziale Stabilität und Wohlstand von zentraler Wichtigkeit ist. Kürzlich hat der UN-Administrator und Sondergesandte des Generalsekretärs für den Kosovo den Wunsch geäußert, ein Happy Hippo Show Projekt im Kosovo zu beginnen. Das Happy Hippo Konzept wurde auch für den Einsatz bei Programmen zur Werteerziehung in Finnland, Italien, Russland, Schweden, Moldawien, Norwegen und Malaysia übernommen.

In Zusammenarbeit mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hat das Europäische Bahá'í Business Forum, ein freiwilliger Zusammenschluss von Bahá'í aus dem Wirtschaftsleben, vor kurzem ein gemeinsames Arbeitspapier mit dem Titel „Umgestaltung in Richtung sozial verantwortlicher Unternehmen“* erarbeitet. Der Bericht diente als Grundlage für verschiedene Trainingseinheiten, die von der ILO organisiert wurden, und wurde an Regierungen, Angestelltenvereinigungen und Arbeiterorganisationen auf der ganzen Welt verteilt. Das Europäische Bahá'í Business Forum hat außerdem eine Reihe von Seminaren zu Wirtschaftsethik in Osteuropa durchgeführt und eine Ausbildungspartnerschaft mit AIESEC, einer der größten Organisationen von Wirtschaftsstudenten weltweit, gebildet.

Als praktischen Beitrag zu einem Dialog über Entwicklung und sozialen Wandel, der ausdrücklich spirituelle Werte und Perspektiven in Betracht zieht, haben sich kürzlich etwa 100 einflussreiche Entwicklungsorganisationen, internationale Vertreter und Regierungsstellen, religiöse Repräsentanten und Akademiker in Neu Delhi getroffen, um an einem Kolloquium zum Thema Wissenschaft, Religion und Entwicklung teilzunehmen. Das Hauptanliegen dieser Veranstaltung war es herauszufinden, wie eine harmonische Interaktion zwischen wissenschaftlichen Methoden und religiösen Einsichten die Heranbildung menschlicher Fähigkeiten, insbesondere in Bereichen der Regierung, Ausbildung, Technologie und Wirtschaft fördern kann. Die Veranstaltung wurde von der indischen Bahá'í-Gemeinde und dem Institute for Studies in Global Prosperity, einer Forschungsabteilung der Internationalen Bahá'í-Gemeinde, organisiert. Auf globaler Ebene sind die Bahá'í zudem in dem sehr konstruktiven "Entwicklungsdialog der Weltreligionen" zwischen der Weltbank und den großen Religionen involviert.

Obwohl die Bahá'í-Gemeinde sich strikt aus der Parteipolitik heraushält, versucht sie doch zum öffentlichen Diskurs über die ihrer Meinung nach grundsätzlichen Fragen beizutragen. In den letzten Jahren hat z. B. die-Bahá'í Gemeinde durch ihre 180 gewählten nationalen Verwaltungsgremien versucht, weltweit die Regierungen dazu zu ermutigen, umfangreiche Programme zur Menschenrechtserziehung durchzuführen. In einigen Fällen haben die Nationalen Bahá'í-Räte konkrete Empfehlungen zur Einführung von Menschenrechts-Lehrplänen in Schulen abgegeben, in anderen haben sie versucht, das Bewusstsein der Regierungsvertreter dafür zu schärfen, dass Menschenrechtserziehung für die Förderung einer Kultur der Gerechtigkeit in ihrer Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Sobald eine derartige Kultur im Entstehen ist, können praktische Themen wie z. B. die Verwaltungsschulung und die Durchsetzung des Rechts, die gerechte Verteilung der Gemeinschaftsgüter und die Aufwertung von Personen und Gruppen, die bislang von den Wohltaten und Chancen der Gesellschaft ausgeschlossen waren, gezielt angegangen werden.

Letztlich glauben die Bahá'í, dass die Entstehung einer friedlichen und gerechten sozialen Ordnung, die durch moralische Prinzipien beseelt ist, von der grundsätzlichen Neubestimmung aller menschlichen Beziehungen abhängt; nämlich, zwischen Einzelpersonen, zwischen der Gesellschaft und der Natur, zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft und zwischen einzelnen Bürgern und ihren Regierungsinstitutionen. Insbesondere müssen überholte Vorstellungen von Macht und Autorität neu definiert werden. Es wird also eine grundlegende Neukonzeptionierung der sozialen Realität angestrebt, eine Realität, die sowohl im Geist wie auch in der Praxis das Prinzip der Einheit der Menschheit widerspiegelt. Anzuerkennen, dass „die Menschheit eine organische Einheit ist“, bedeutet zuzustimmen, dass jeder Mensch „als Pfand in diese Welt hineingeboren [wurde].“[iii]

Regieren wird in den Bahá'í-Schriften als ein Ausdruck von Treuhänderschaft verstanden, als Verwaltung eines anvertrauten Gutes. Bahá'u'lláh spricht von den Regierenden und Verwaltern der Gesellschaft als „Treuhänder“ oder als „Vertraute“ Gottes. Er ermahnt die Führer auch, dass die Schwachen und Armen „das Pfand Gottes in eurer Mitte sind.“[iv] Das Konzept der Treuhänderschaft deutet in gewisser Weise an, dass ein Bund besteht zwischen denjenigen, die Autorität inne haben und jenen, die Mitglieder eines sozialen Gemeinwesens sind, zu deren Schutz und Dienstleistung erstere verpflichtet sind. Folglich ist Vertrauenswürdigkeit ein unerlässliches Merkmal des Regierens; sie ist die Quelle der wahren Verantwortlichkeit. Bahá'u'lláh beschreibt die Vertrauenswürdigkeit als das „weite, breite Tor zur Ruhe und Sicherheit des Volkes,“ und als „das erhabenste Werkzeug für die Wohlfahrt der Welt“[v]. „Alle Bereiche der Macht, Größe und Wohlfahrt“, so betont Er, „ leuchten in ihrem Licht.“[vi]

Während Regieren oft mit Regierung gleichgesetzt wird, beinhaltet es tatsächlich doch viel mehr. Regieren findet auf allen Ebenen statt und umfasst die Art und Weise, wie offizielle Regierungen, Nichtregierungs-Gruppen, kommunale Organisationen und der private Sektor ihre Mittel und Angelegenheiten verwalten. Es sind vor allem drei Faktoren, welche die Effektivität eines jeden Regierungssystems bestimmen: die Qualität der Führung, die Charaktereigenschaften der Regierten, und die Art der Strukturen und Prozesse, die zur Autoritätsausübung und zur Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen eingesetzt werden.

In diesem Sinne bietet die Bahá'í-Gemeinde ihr eigenes Verwaltungssystem als Studienmodell an. Die Bahá'í legen großen Wert auf kooperative Entscheidungsfindung und übertragen die organisatorische Verantwortung für ihre Gemeindeangelegenheiten an frei gewählte verwaltende Räte auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Diese Form der Hierarchie überträgt die Entscheidungsfindung auf die niedrigst mögliche Ebene, wodurch ein einzigartiger Weg für die Graswurzelbeteiligung in Regierungsangelegenheiten geschaffen wird, während zugleich ein Maß an Koordination und Autorität entsteht, das weltweite Zusammenarbeit ermöglicht. Ein einzigartiges Merkmal des Bahá'í-Wahlprozesses ist die unbeschränkte Wahlfreiheit für die Wählerschaft durch das Verbot von Nominierungen, Kandidaturen und Wahlwerbung. Die Wahl in ein Bahá'í-Verwaltungsgremium gründet sich nicht auf persönlichen Ehrgeiz, sondern vielmehr auf nachgewiesene Befähigung, reife Erfahrung und verbindliche Dienstbereitschaft. Da das Bahá'í-System aufgezwungene Willkür oder Führerschaft eines Einzelnen nicht gestattet, kann es auch nicht als Wegbereiter zur Macht missbraucht werden. Die Entscheidungsgewalt liegt bei körperschaftlichen Gremien. Von allen Mitgliedern der Bahá'í-Gemeinde, unabhängig davon, welche Position sie vorübergehend in der Verwaltungsstruktur innehaben, wird erwartet, dass sie sich selbst in einem Lernprozess eingebunden betrachten, in dem sie sich um das Verstehen und Anwenden der Gesetze und Prinzipien ihres Glaubens bemühen. Bezeichnenderweise fand in vielen Teilen der Welt demokratisches Handeln erstmals innerhalb der Bahá'í-Gemeinde statt.

Die Fähigkeit einer jeden Institution, Veränderungen zu bewirken und zu verarbeiten, wie auch den vor ihr liegenden Herausforderungen kreativ zu begegnen, bringt die Entwicklung einer Anzahl wichtiger Fertigkeiten mit sich. Dazu gehören die folgenden: die Fähigkeit, eine klare Vorstellung der sozialen Realität und der in ihr agierenden Kräfte beizubehalten; die gründliche Bestandsaufnahme des Gemeindepotenzials; die freie und harmonische Beratung, sowohl intern wie auch mit ihrem Wahlbezirk; die Erkenntnis, dass jede Entscheidung sowohl eine materielle als auch eine geistige Dimension hat; die Fähigkeit, Entscheidungen in einer Art zu treffen, welche die Einheit der Institution bewahrt und fördert; das Vertrauen, den Respekt und die echte Unterstützung derjenigen zu gewinnen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind; die effektive Nutzung der Energien und vielfältigen Talente der Gemeindemitglieder, denen sie dient; die Integration der Vielfalt von Einzel- und Gruppeninitiativen in eine vorwärts gerichtete Entwicklung, die allen nützt; das Aufrechterhalten von Maßstäben der Gerechtigkeit und Fairness; das Umsetzen von Entscheidungen mit einer Offenheit und Flexibilität, die jede Spur diktatorischen Verhaltens vermeiden. Diese Konstellation von Fähigkeiten muss natürlich sowohl intellektuellen als auch moralischen Quellen entspringen.

In den Bahá'í-Schriften werden diejenigen, die im Regierungsdienst stehen, ermahnt, „mit völliger Loslösung, Reinheit und unabhängigen Sinnes, mit vollkommener Hingabe und reiner Absicht an ihre Pflichten heran[zu]gehen.“[vii] Sie erfahren persönliche Erfüllung nicht durch materielle Belohnung, sondern durch das „Ersinnen neuer Mittel und Wege, wie die Fortentwicklung des Volkes gesichert werden kann“, sowie durch das Erleben der „Freude beim Spenden der Gerechtigkeit“ und dem Trinken von „den Quellen eines wachen Bewusstseins und einer aufrechten Absicht“[viii]. Am Ende bestehen „Glück und Größe, Rang und Stufe, Freude und Frieden“ des Bediensteten nicht in „seinem persönlichen Reichtum, vielmehr in seinem hervorragenden Charakter, seinem hehren Entschluss, seiner umfassenden Bildung und seiner Fähigkeit, schwierige Probleme zu lösen.“[ix]

Die Herausforderung, Korruption im öffentlichen Leben zu überwinden, ist ihrem Wesen nach vielschichtig. Verwaltungstechnische Vorkehrungen und rechtliche Absicherungen werden, wie wichtig solche Maßnahmen auch sein mögen, weder beim Einzelnen noch bei Institutionen zu bleibenden Verhaltensänderungen führen. Denn Regieren ist im Wesentlichen ein moralisches und geistiges Unterfangen, dessen Reichweite im menschlichen Herzen beheimatet ist. Daher kann nur dann, wenn das innere Leben der Menschen verwandelt wird, die Vision einer „wahren Zivilisation des Charakters“[x] zur Realität werden.

 

i Bahá’u’lláh, Botschaften aus Akká, Hofheim 1982, 8:53

ii Botschaften, 6:36

iii Bahá'í International Community, Entwicklungsperspektiven für die Menschheit, Hofheim 42000, S. 9

iv Bahá’u’lláh, Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs , Hofehim 41999, 118:5

v Botschaften, 4:17 u. 8:44

vi a.a.O., 4:17

vii Vertrauenswürdigkeit, Textzusammenstellung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit über eine Kardinaltugend der Bahá'í, Hofheim 1990, S. 59

viii ‘Abdu’l-Bahá, Das Geheimnis göttlicher Kultur, Oberkalbach 1973, S. 27 u. 29

ix a.a.O., S. 30f

x a.a.O., S. 61

 

* Socially Responsible Enterprise Restructuring