Armutsbekämpfung: einig voran schreiten

Statements

Armutsbekämpfung: einig voran schreiten

Stellungnahme der Internationalen Baha'i Gemeinde zu Armut

New York—14 February 2008

Teil I

Endlich wird die Krise der weltweiten Armut auf der internationalen Agenda mit hoher Priorität angegangen. Diese erfreuliche Entwicklung hat hektische Diskussionen und Untersuchungen hinsichtlich der Mittel für die Ausrottung dieses für das menschliche Leben hinderlichen Zustandes ausgelöst. Angesichts der Tatsache, dass weder die Flut von Versprechungen durch Regierungen noch die gängigen Theorien und herkömmlichen Ansätze im Stande sind, lang gehegte Vorurteile, Konflikte und Ausbeutung zu überwinden, werden die weltweiten Bemühungen zur Armutsbekämpfung von einem Gefühl der Steuerungslosigkeit überschattet. Zugleich tritt ein spürbarer Optimismus zu Tage, entstanden durch die Aufmerksamkeit und die Dynamik, die die Suche nach Lösungen für diese weltweite Herausforderung erzeugt hat.

Die Mechanismen zur Armutsbekämpfung wurden seit jeher vorwiegend in materiellen Begriffen definiert. Die Hauptsäule der Armutsbekämpfung von Seiten der internationalen Staatengemeinschaft bestand bisher im Transfer finanzieller Mittel. Etwa 2,3 Billionen US-Dollar wurden in den letzten fünf Jahrzehnten in Form finanzieller Hilfe ausgegeben.1] Diese Hilfeleistungen haben tragischer Weise nicht zu größerer wirtschaftlicher Unabhängigkeit geführt, sondern hatten auf die Empfänger oft den gegenteiligen Effekt: noch stärkere Abhängigkeit von ausländischer Hilfe, Unterordnung unter von außen diktierte Prioritäten, Veruntreuung von Geldmitteln und Verminderung des Druckes, Regierungshandeln zu ändern. Entschlossen, hier eine Änderung herbeizuführen, haben die Vereinten Nationen durch ihre Millennium Entwicklungsziele den Versuch gestartet, die Hilfsmechanismen auszuweiten und breitere Unterstützung für die Armutsbekämpfung zu gewinnen.2]

Es wird zunehmend anerkannt, dass Zustände wie die Marginalisierung von Mädchen und Frauen3], schlechtes Regierungshandeln4], ethnische und religiöse Auseinandersetzungen5], Schädigung der Umwelt6] und Arbeitslosigkeit7] wesentliche Hindernisse für Fortschritt und Entwicklung von Gemeinschaften sind. All dies sind Anzeichen einer tieferen Krise – einer Krise, die von den Werten und Einstellungen herrührt, die die Beziehungen auf allen Ebenen der Gesellschaft prägen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet kann Armut als das Fehlen jener ethischen, sozialen und materiellen Ressourcen angesehen werden, die notwendig sind, um die moralischen, intellektuellen und sozialen Kompetenzen von Einzelnen, Gemeinden und Institutionen zu entwickeln. Moralische Urteilskraft, gemeinschaftliche Entscheidungsprozesse und die Abwesenheit von Rassismus – dies sind Beispiele für wesentliche Werkzeuge zur Verminderung der Armut. Derartige Fähigkeiten müssen das Denken des Einzelnen, aber auch institutionelle Abmachungen und politische Entscheidungen prägen. Um es ganz deutlich auszudrücken: das Ziel muss sein, nicht nur das Leid der Armut zu beseitigen, sondern die Massen der Menschheit darin zu engagieren, eine gerechte Weltordnung aufzubauen.

Einzelne und Institutionen müssen Hand in Hand daran arbeiten, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen. Eines der Ziele der Armutsbekämpfung kreist also um den Einzelnen: ihm muss geholfen werden, seine Würde und sein Selbstwertgefühl wiederzuerlangen. Man muss ihn ermutigen, damit er zuversichtlich daran geht, seine Lebensbedingungen zu verbessern, und danach strebt, sein Potential zu verwirklichen. Über das Erreichen persönlichen Wohlergehens hinaus muss er dazu erzogen werden, eine Quelle sozialen Wohls zu werden - des Friedens, der Freude und zum Nutzen seiner Umgebung. Es ist der Grad der Dienstbarkeit für andere, in dem unser Menschsein seinen höchsten Ausdruck findet. Das zweite Ziel kreist um die Institutionen: auf jeder Ebene der Gesellschaft müssen sie als Kanäle dienen, durch welche die Talente und Energien der Einzelnen nutzbar gemacht werden zum Dienst an der Menschheit. Die Mittel, die dazu beitragen, diese Fähigkeiten von Einzelnen und Institutionen zu entwickeln, bilden eine wahre Quelle des Reichtums für eine Gemeinschaft.

So wie physikalische Gesetze die materielle Welt bestimmen, so wird die soziale Welt von moralischen Gesetzen geleitet, die dem Funktionieren einer geordneten Gesellschaft zugrunde liegen. Prinzipien wie die Gleichberechtigung der Geschlechter8], Vertrauenswürdigkeit9], Zugang zu Bildung, Menschenrechte und Religionsfreiheit10] harmonisieren beispielsweise sehr gut mit Maßnahmen die auf sozio-ökonomisches Wohlergehen und Stabilität abzielen. Die Verwobenheit der aus der Armut resultierenden Probleme erfordert die Formulierung von Prinzipien, die für die Analyse, die Entscheidungsfindung und die Entwicklung von messbaren Fortschrittskriterien geeignet sind. Der wesentliche Vorzug eines auf Prinzipien basierenden Prozesses liegt darin, dass er Einzelne und Institutionen von ihrem Fokus auf punktuelle, kurzfristige Anliegen wegführt, hin zu einer systemischen und langfristigen Betrachtungsweise von Problemen. Damit eine Entscheidung Unterstützung mobilisieren und Ergebnisse vorweisen kann, muss der Entscheidungsprozess selbst integer sein: er muss diejenigen, die von den Entscheidungen unmittelbar betroffen sind, mit einbeziehen und von transparenten, gemeinsam vereinbarten ethischen Normen gesteuert werden.

In diesem Zusammenhang möchte die Internationale Baha'i Gemeinde zwei Prinzipien als Leitlinien für die Bemühungen im Bereich der Armutsbekämpfung anbieten: Gerechtigkeit und Einheit. Auf diesen Prinzipien basiert eine Vision von Entwicklung, in der materieller Fortschritt als Mittel zur moralischen und kulturellen Weiterentwicklung der Menschheit dient. Gerechtigkeit verschafft die Möglichkeit, unser menschliches Potential dafür einzusetzen, die Armut aus unserer Mitte zu beseitigen, indem Recht umgesetzt wird, wirtschaftliche Systeme angeglichen, Wohlstand und Chancen neu verteilt und höchste moralische Normen im öffentlichen wie auch im privaten Bereich eingehalten werden. Einheit sorgt dafür, dass Fortschritt systemisch und relational orientiert ist, dass die Sorge um die Integrität der Familie und der lokalen, nationalen und internationalen Gemeinschaft Maßnahmen zur Armutsbekämpfung leiten muss.

Teil II

Staatsführung

Die Frage der Armut erlegt den gewählten Politikern und ihren Regierungen besondere Verantwortung auf. Während manche argumentieren, dass es die Armut ist, die zu schlechtem Regieren führt, bewegt sich die Ursächlichkeit oft in die entgegengesetzte Richtung: besseres Regieren führt zu besseren Entwicklungsergebnissen.11] Entscheidend für das Thema der Staatsführung ist die unausweichliche Frage des Charakters – die Werte, die ein politisch Verantwortlicher in sein Amt bringt, definieren zum großen Teil die Richtung und die Früchte seiner Arbeit. Dabei ist Vertrauenswürdigkeit einer der wichtigsten Werte, denn sie fördert die Glaubwürdigkeit gegenüber der Öffentlichkeit und anderen Politikern, baut Unterstützung für Regierungsinitiativen auf und erzeugt Stabilität und Sicherheit. Erfolgreiche Führer müssen nicht nur eine tadellose Ethik ausüben. Sie müssen auch daran arbeiten, die Beschaffenheit von Wirtschafts-, Sozial-, Rechts- und Bildungsinstitutionen zu stärken, ihre rechtlichen Rahmenbedingungen zu verbessern und knappe Ressourcen bestmöglich zu verwalten. Was ihre Bezüge angeht, so müssen sie mit einem rechtmäßigen und bescheidenen Einkommen zufrieden sein. Da die Politik immer internationaler wird, müssen die gewählten Politiker außerdem die Vision und den Mut zeigen, Schritt für Schritt die nationalen Interessen mit den Anforderungen einer sich kontinuierlich entwickelnden weltweiten Gemeinschaft in Einklang zu bringen.

Gerechtigkeit und Menschenrechte

Die Bemühungen der Vereinten Nationen, Armutsbekämpfung mit der Etablierung internationaler Menschenrechtsnormen zu verbinden, ist ein erfreulicher Schritt, um das Handeln der Regierungen mit den Prinzipien der Gerechtigkeit in Einklang zu bringen. Unser gemeinsames Erbe an Menschenrechtsnormen, die unter anderem die Rechte des Einzelnen und der Familie umfassen sowie Gewissens- und Glaubensfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und ethnische Gleichwertigkeit wie auch das Recht auf Arbeit und auf Bildung, verkörpert die wichtigsten moralischen Errungenschaften der Menschheit. Die Menschenrechte, wie sie von den meisten Regierungen in der Welt befürwortet werden, müssen Eingang finden in die politische Kultur sowie die Rechtskultur und systematisch in die innerstaatliche Gesetzgebung aufgenommen werden. Sie müssen in alle Sprachen übersetzt und durch die Medien und Bildungseinrichtungen allen zugängig gemacht werden. Auf diese Weise können Menschenrechtsnormen die fehlerhaften Rechtssysteme ersetzen, die sich durch repressive und willkürliche Anwendung von Gesetzen gegenüber Menschen kennzeichnen, die sich ihrer Rechte nicht bewusst und unfähig sind, ihre Belange zu artikulieren.

Verantwortung des Einzelnen

Ein Großteil der Verantwortung für die Bekämpfung von Armut liegt bei den Menschen selbst. Auch wenn Armut das Produkt zahlreicher Faktoren ist: historischer, wirtschaftlicher, politischer und Umweltfaktoren, so gibt es auch eine kulturell bedingte Dimension, die sich in individuellen Werten und Einstellungen ausdrückt. So lange zum Beispiel Mädchen und Frauen unterdrückt werden, so lange der Wert der Erziehung missachtet und das Recht des Einzelnen, sich zu entwickeln, geleugnet wird, so lange können die Bedingungen für Armut nur schlimmer werden. Grundlegende Qualitäten des Menschen wie Ehrlichkeit, Bereitschaft zu arbeiten und zu kooperieren können hingegen genutzt werden, um enorm herausfordernde Ziele zu erreichen. Allerdings müssen die Mitglieder einer Gesellschaft darauf vertrauen können, gesetzlich geschützt zu sein, und die Vorteile müssen allen in gleicher Weise zukommen. Will man also Veränderungen in Einstellungen und Verhaltensweisen bewirken, kann sich die Umsetzung des Menschenrechtsansatzes mit seiner Betonung auf ein Set individueller Rechte ohne einen damit einhergehenden moralischen Einfluss als schwierig erweisen.

Geschlechterfragen

Das Thema der Gleichberechtigung der Geschlechter ist ein solches Beispiel: im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte gab es immer wieder Treffen, bei denen die Staaten anerkannt haben, dass Frauen eine entscheidende Rolle dabei spielen, die Entwicklungsziele voranzutreiben. Natur- und Sozialwissenschaften haben die Grundlagen, auf der die Diskriminierung fußte, längst ad acta gelegt; die meisten Länder haben Gesetze verabschiedet, die den Frauen die gleichen Chancen zugesichert haben wie den Männern; Abkommen wurden unterzeichnet und ratifiziert; neue Maßstäbe und soziale Indikatoren wurden etabliert. Doch nach wie vor ist die Beteiligung der Frauen in den Bereichen von Gesetzgebung, Politik, Naturwissenschaft, Handel und Religion, um nur einige wenige zu nennen, höchst unzureichend. Wo Frauen hingegen Zugang zu Bildung, bezahlte Arbeit und Eigentumsrechte bekommen haben, kann man tiefgreifende Veränderungen auf vielen Ebenen beobachten: im Familienverband eine gerechtere Verteilung von Nahrung, Ressourcen und Gesundheitsvorsorge unter Mädchen und Jungen; eine höhere Alphabetisierungsrate bei den Kindern; eine niedrigere Geburtenrate, die ihrerseits bessere wirtschaftliche Bedingungen und gesündere Mütter zur Folge hat; das Einbringen neuer Anliegen in den öffentlichen Diskurs. Allein die Tatsache, dass Frauen lesen und schreiben können, spielt nachgewiesenermaßen eine größere Rolle bei der Förderung von sozialem Wohlergehen als jede andere Variable, die den allgemeinen Wohlstand einer Gesellschaft beeinflusst.12] Wo wirtschaftliche und soziale Bedingungen und gesellschaftliche Akzeptanz die Förderung von Frauen begünstigen, bessert sich das Wohlbefinden der ganzen Familiedrastisch. Für die allmähliche Wandlung der Einstellungen war jedoch viel mehr vonnöten als bloße Gesetzesmaßnahmen – es bedurfte eines grundlegenden Wandels der Überzeugungen über die Rolle von Männern und Frauen und des Mutes, traditionelle Geschlechternormen in Frage zu stellen.

Wirtschaftliches Handeln

Es kann nicht bestritten werden, dass das Fortbestehen der Armut durch eine Wechselwirkung von sozialen und materiellen Faktoren bestimmt wird. Diese Wechselwirkung entscheidet über den gesellschaftlichen Nutzen materieller Ressourcen - ob die Ressourcen sich in den Händen weniger befinden oder gerecht verteilt werden, ob sie für die Gesellschaft als Ganzes nutzbringend oder schädlich sind. Heutzutage stehen viele wirtschaftliche Aktivitäten und ihr institutioneller Rahmen in Konflikt mit ökologischer Nachhaltigkeit, den Aufstiegschancen von Frauen, dem Wohlergehen der Familie, der Einbeziehung junger Menschen, der Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen und der Erweiterung des Wissens. Militärausgaben belaufen sich beispielsweise auf mehr als eine Billion US-Dollar13], und der weltweite Handel mit illegalen Drogen übersteigt mit 300 Mrd. US-Dollar14] bei weitem die geschätzten Kosten der globalen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen in den Bereichen Ausbildung, Gesundheit, Nachhaltigkeit und Frauenförderung.15] Die Wirtschaftstheorien über ungezügelte Märkte, welche egoistische Aktivitäten Einzelner begünstigen, haben der Menschheit alles andere als geholfen, extreme Armut auf der einen und extreme Verschwendung auf der anderen Seite zu vermeiden. Dagegen müssen für die heutige Zeit neue wirtschaftliche Theorien von einer Motivation getragen sein, die über reinen Profit hinausgeht. Sie müssen in der sehr menschenorientierten und sozialen Dimension wirtschaftlichen Handelns verwurzelt sein, die uns als Familien, als Gemeinschaften oder als Weltbürger aneinander bindet. Sie müssen getragen sein von einem Geist der Innovation, nicht der blinden Nachahmung, der Veredelung, nicht der Ausbeutung, und der vollständigen und überzeugenden Beteiligung der Frauen.

Extremer Reichtum

Die wirtschaftlichen Überlegungen, die den Bemühungen zur Armutsbekämpfung zugrunde liegen, konzentrieren sich im Allgemeinen auf die Schaffung von Reichtum. Sie haben jedoch das parallel dazu existierende Problem der übertriebenen Anhäufung von Reichtum noch nicht in vollem Ausmaß in Betracht gezogen. In einer vernetzten Welt, in der das Vermögen vieler der reichsten Menschen das Bruttosozialprodukt ganzer Nationen übersteigt, existieren extreme Armut und extremer Reichtum Seite an Seite. Viele der Entwicklungshilfemaßnahmen zielen zwar auf die Ärmsten ab, doch muss das Augenmerk auch dringend auf die Konzentration von Kapital in den Händen weniger gerichtet werden. Der ungeheure Reichtum, der von internationalen Firmen angehäuft wurde, könnte in der Tat integraler Bestandteil des Schlüssels zur Armutsbekämpfung sein – durch strenge Regularien zur Gewährleistung guter Weltbürgerschaft, durch die Einhaltung von Menschenrechtsstandards und durch die Verteilung des Wohlstandes, damit der breiteren Gesellschaft zu Gute kommt. Wenn es um den Reichtum einer Nation geht, ist es eher eine Frage der sozialen Wertigkeit und weniger eine des Brutto-Geldwertes. Das Bruttosozialprodukt ist beispielsweise die Summe aller wirtschaftlichen Tätigkeiten – darunter auch die Produktion von Waffen, Zigaretten usw. – ohne Rücksicht auf ihren sozialen Wert oder die Belastung der Umwelt. Neue Maßstäbe sind nötig, bei denen alles mit einbezogen wird: Umweltschäden und wirtschaftliche Übel und ebenso die nie berechneten und nie bezahlten Leistungen. Nur so kann man ein klareres Bild von dem wirtschaftlichen Befinden und dem Wohlergehen einer Nation erhalten.16]

Nachhaltige Entwicklung

Es ist weithin anerkannt, dass der wirtschaftliche Aufschwung eine enorme Belastung unserer natürlichen Umwelt mit sich gebracht hat.17] Tatsächlich hat kein Land sich zu einer größeren Industrienation entwickelt, ohne ein Erbe erheblicher Umweltschäden hinterlassen zu haben, das Sicherheit und Wohlergehen des eigenen Volkes beeinträchtigt, wie auch – und das ist genauso wichtig – die Sicherheit und das Wohlergehen von Entwicklungsländern. Das wachstumsorientierte wirtschaftliche Paradigma, das auf nationalen Interessen und auf den Ausschluss sozialer und ökologischer Variablen sowie der Missachtung eines weltweiten Wohlergehens basiert, wird zunehmend einer genauen Überprüfung unterzogen. Schwierige moralische Fragen der Verteilung von Ressourcen und der Verantwortung für entstandene Schäden zwingen die Regierungen dazu, institutionelle Mechanismen einzuführen und Verfahren zu entwickeln, die das Gedeihen und die Gesundheit der weltweiten Gemeinschaft und der zukünftiger Generationen berücksichtigen. Auf institutioneller Ebene ist ein globales Gremium mit stark wissenschaftlicher Beratungsfunktion nötig, um die Prozesse der Berichterstattung und der Entscheidungsfindung aufeinander abzustimmen, wobei auch Stimmen nicht-staatlicher Akteure gehört werden müssen. Dieses Gremium muss Umweltthemen auf schlüssige Weise mit sozialen und wirtschaftlichen Prioritäten in Beziehung setzen, denn keines dieser Belange kann isoliert vorangetrieben werden.18] Im Bildungsbereich müssen Lehrpläne zum Ziel haben, ein Verantwortungsgefühl gegenüber der Umwelt zu entwickeln und eine forschende und innovative Einstellung zu fördern, damit die Vielfalt menschlicher Erfahrung der Herausforderung begegnen kann, einen Weg der nachhaltigen Entwicklung einzuschlagen, ohne zugleich die Umwelt zu schädigen.

Landwirtschaft

Ein wesentliches Element der Strategie nachhaltiger Entwicklung ist die Reform landwirtschaftlicher Politik und ihrer Verfahren. Lebensmittelherstellung und Landwirtschaft sind weltweit die größten Arbeitgeber; fast 70 Prozent der Armen in Entwicklungsländern leben in ländlichen Gebieten, und ihr Lebensunterhalt hängt von der Landwirtschaft ab.19] Obwohl die Landwirtschaft durch die verarbeitende Industrie und eine schnell wachsende städtische Bevölkerung entwertet wurde, bildet sie noch immer die Basis des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Unterernährung und die Ungewissheit der Versorgung mit Nahrungsmitteln ersticken alle Versuche der Entwicklung und des Fortschritts. Trotz dieser Schlüsselrolle kommt Armut gehäuft in ländlichen Gebieten vor. Die Schädigung der natürlichen Ressourcen und der Mangel an Information und Infrastruktur führen oft zu instabiler Versorgung, erhöhter Sterblichkeit und Landflucht in städtische Gebiete auf der Suche nach einem besseren Leben. Die Bauern müssen ihren rechtmäßigen Platz im Entwicklungsprozess und dem Aufbau einer Zivilisation einnehmen: wenn die Dörfer einmal wieder aufgebaut sind, werden die Städte folgen.

Beschäftigung

Die Bereitstellung sinnvoller Arbeit stellt einen wesentlichen Bestandteil der Anstrengungen zur Armutsbekämpfung dar. Die sinnvolle Beschäftigung junger Menschen wird sogar noch wichtiger, weil die städtische Bevölkerung wächst und damit auch die Armenviertel, die Kriminalitätsrate, der Drogenkonsum, Arbeitslosigkeit und das Zusammenbrechen von Familienstrukturen und soziale Isolation. Heutzutage machen junge Menschen zwischen 15 und 29 Jahren fast die Hälfte der Erwachsenen in den hundert wirtschaftlich benachteiligsten Nationen aus.20] Der Mangel an sinnvoller Arbeit verstärkt ihr Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Frustration. Es muss jedoch nicht nur der Umfang, sondern auch die Qualität und der Sinn der Arbeit neu überdacht werden. Egal ob man ein Feld bestellt oder Waren verkauft, sollte die Arbeit nicht lediglich als Mittel angesehen werden, um mehr Dinge zu kaufen, oder als ein entbehrlicher Kostenfaktor. Die Arbeit eines Menschen ist das Mittel, seine Fertigkeiten zu entwickeln, seinen Charakter zu verfeinern und zum Wohlergehen und dem Fortschritt der Gesellschaft beizutragen. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit muss in der Tat mit der Betonung der Würde und dem Wert jedweder menschlichen Arbeit anfangen, sei sie auch gering, unsicher, unrentabel oder unbezahlt.

Wissen

Einer sinnvollen Teilhabe am Fortschritt der Gesellschaft und den höheren Zielen der Kultur liegt dass Bollwerk der Erziehung zu Grunde. Auch wenn sich viele Programme zur Beseitigung der Armut darauf konzentriert haben, die Teilnehmerzahlen an Grund- und weiterführenden Schulen zu erhöhen – was ein erster Schritt ist –, so muss doch auch das langfristige Ziel formuliert werden: nämlich eine Gesellschaft zu schaffen, in der alle Aspekte menschlicher Aktivität vom Schaffen, Verbreiten und Anwenden von Wissen durchdrungen sind. Dies erfordert das Eingreifen auf allen Ebenen: Methoden der Erziehung, die Fragen der Kinder fördern, gleiche Bildungschancen für Jungen und Mädchen, die Entwicklung unabhängiger Medien, die Übersetzung von Texten anderer Kulturen und die Förderung von Innovation und wissenschaftlicher Forschung. Soll der menschliche Geist frei sein, neues zu erfinden und Lösungen für komplexe Probleme zu ersinnen, so muss er die Freiheit haben, Wissen zu erwerben.

Religion

Das Konzept von Wissen, das jetzt erforderlich ist, um die Bemühungen bei der Armutsbekämpfung zu steuern, muss sowohl auf die Armut an Gütern wie auch auf die Armut an Geistigkeit angewandt werden können. Materielle Ressourcen sind zweifellos unentbehrlich, doch sie allein können keine Vision des vollen Maßes menschlichen Wohlstands generieren; sie können keine Antwort auf die tiefsten Fragen der menschlichen Natur oder den Sinn unseres Daseins geben. Wichtiger noch, materielle und technische Dimensionen allein werden nicht die grundlegenden Veränderungen im menschlichen Charakter und Glauben hervorbringen können, die nötig sind, um die destruktiven Verhaltensweisen zu überwinden, die zu der heutigen Situation geführt haben. Sie werden nicht imstande sein, den menschlichen Willen anzuregen und darin zu bestärken, Langmut zu haben, nach Vortrefflichkeit zu streben, demütig zu dienen, schöpferisch tätig zu sein, nach Wissen zu streben, Schönheit zu kultivieren und das Wohlergehen der ganzen Menschheit anzustreben. Die geistige Dimension und ihren Ausdruck in den Religionen der Welt mit einzubeziehen, bedeutet nicht, zum Aberglauben oder Fanatismus zurückzukehren oder rationales Denken in irgendeiner Weise anzuprangern. Es geht eher darum, bei den Bemühungen der Armutsbekämpfung auf ganzheitliche Weise alle Dimensionen menschlicher Erfahrung einzubinden  sowie ein Verständnis davon, wie Armut sich in den materiellen und den geistigen Dimensionen des menschlichen Lebens manifestiert.

Bei unseren Bemühungen, Armut zu beseitigen, erleben wir nichts weniger als die Geburtswehen einer wahrhaft weltweiten Zivilisation: Neue Denkansätze, neue Standards und neue gesetzliche und institutionelle Gefüge ringen darum, sich durchzusetzen. So wie unser Verständnis der Probleme und ihrer möglichen Lösungen sich ausweitet, so ebnet ein noch nie da gewesener globaler Konsens und die dazu gehörige Möglichkeit weltweiter Zusammenarbeit den Weg für ein Ergebnis, das großartiger ist als irgendetwas, das wir bisher erreichen konnten. Um aber das Wissen und das Engagement zu generieren, das vonnöten ist, um Armut zu überwinden, muss der Mensch das volle Spektrum geistigen und intellektuellen Potentials für dieses Unternehmen aufbieten. Und wenn die Fülle unseres Menschseins sich diesem Prozess verpflichtet hat, wird es die Struktur von Zivilisation erneuern.

 

 

[1] Easterly, William. The White Man’s Burden: Why the West’s Efforts to Aid the Rest Have Done So Much Ill and so Little Good. The Penguin Press: New York, 2006.

[2] Die Millennium Entwicklungsziele, die im Jahr 2000 formuliert wurden, sind die Strategie der Vereinten Nationen, extreme Armut bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Die acht Termin-gebundenen Ziele beinhalten: Beseitigung extremen Hungers und extremer Armut, Förderung der Gleichberechtigung der Geschlechter, Verminderung der Kindersterblichkeitsrate, Verbesserung der Gesundheitsvorsorge werdender Mütter, Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen Krankheiten, Gewährleistung nachhaltiger Umweltverträglichkeit, Aufbau einer weltweiten Partnerschaft für Entwicklung.

[3] Mason, Andrew D. und Elizabeth M. King. Engendering Development through Gender Equality in Rights, Resources, and Voice. Ein Forschungsbericht der Weltbank: Washington, DC, 2001; Towards Achieving Gender Equality and Empowering Women. Internationales Forschungszentrum für Frauen: Washington, DC, 2005; Chen, M. et al. Progress of the World’s Women 2005: Women, Work & Poverty. UN Frauen-Fonds: New York, 2005.

[4] Kaufmann, Daniel; Aart Kraay und Massimo Mastruzzi. Governance Matters IV: Governance Indicators for 1996 – 2004. Weltbank: Washington, DC, 2005; Arab Human Development Report 2004: Towards Freedom in the Arab World. Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen: New York, 2004. Am 17. September 2007 berichtete der Nachrichtendienst der Vereinten Nationen, dass jährlich ein Viertel des Bruttoinlandproduktes der afrikanischen Staaten (148 Mrd. US-Dollar) der Korruption zum Opfer fällt.

[5] Human Development Report 2004. Cultural Liberty in Today’s Diverse World. Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen: New York, 2004.

[6] Stern, Nicholas. Stern Review: The Economics of Climate Change, HM Treasury: London, 2006.

[7] World Employment Report 2004-2005. Employment, Productivity and Poverty Reduction. Internationaler Arbeiterverband: Genf, 2004.

[8] Siehe 3.

[9] Siehe 4.

[10] “The Failed States Index,” Foreign Policy, Juli/August 2007, 55-63.

[11] Siehe 2 oben.

[12] Sen, Amartya. Development as Freedom. Anchor: New York, 2000.

[13] United Nations Peacekeeping Operations Background Note. Büro für Öffentlichkeitsarbeit der Vereinten Nationen: New York. 30. November 2005 (Beträge in US-Dollar, 2005).

[14] World Drug Report 2007. UN Büro für Drogen und Kriminalität: New York, 2007.

[15] Das UN-Millennium-Projekt schätzt die Kosten, die aufgewendet werden müssen, um die Ziele der Millennium-Entwicklungsziele in allen Ländern zu erreichen, auf etwa 121 Mrd. US-Dollar im Jahr 2006, und bis 2015 ansteigend auf 189 Mrd. US Dollar. (UN Millennium Project 2005. Investing in Development: A Practical Plan to Achieve the Millennium Development Goals. Overview. UN-Entwicklungsprogramm: New York, 2005).

[16] Verschiedene Wissenschaftler untersuchen alternative Maßstäbe, um das nationale Vermögen zu messen. Der „Genuine Progress Indicator” (dt. „Tatsächlicher Fortschrittsindikator“) ist eine solche Initiative. Im Unterschied zu dem traditionellen Maßstab des Bruttoinlandprodukts (BIP) versucht der GPI, Umweltverschmutzung und wirtschaftliche Missfolgen abzuziehen und bisher nicht einkalkulierte Beiträge wie beispielsweise Hausarbeit und Familienzeit mit einzuberechnen, um ein klareres Bild des nationalen Vermögens zu ermitteln. Für 2002 (das aktuellste Jahr mit GPI Daten) errechnete die Nicht-Regierungsorganisation „Redefining Progress“, dass in den USA zwischen 1972 und 2002 der GDP um 79% pro Kopf wuchs, während der GPI nur um 1% anwuchs (Jason Venetoulis und Cliff Cobb. The Genuine Progress Indicator 1950-2002 (2004 Update). Redefining Progress: Oakland, CA, 2004).

[17] Berichte des „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (1988 von der Internationalen Meteorologischen Organisation und dem UN Entwicklungsprogramm gegründet) werden in den Debatten zum Klimawandel oft zitiert. Die aktuellsten Berichte mit dem Titel Climate Change 2007 beinhalten: The Physical Science Basis; Impacts, Adaptation and Vulnerability und Mitigation of Climate Change. Sie wurden 2007 von der Cambridge University Press veröffentlicht.

[18] Auf nationaler Ebene müssen die umfangreichen Anforderungen der Berichterstattung einander angepasst und konsolidiert werden, damit die Länder ihren Verpflichtungen effektiv und kohärent nachkommen können.

[19] Dixon, John, Aidan Gulliver and David Gibbon. Farming Systems and Poverty: improving farmers' livelihoods in a changing world. Eine gemeinsame Studie der „Food and Agriculture Organization“ (FAO) der Vereinten Nationen und der Weltbank: Rom und Washington, DC, 2001. URL: ftp://ftp.fao.org/docrep/fao/003/y1860e/y1860e00.pdf

[20] World Watch Institute, Vital Signs 2007-2008, 74.