Die Familie in der Weltgemeinschaft

Statements

Die Familie in der Weltgemeinschaft

Erklärung der Internationalen Bahá’í-Gemeinde zum Internationalen Jahr der Familie der Vereinten Nationen 1994

Malta—25 November 1993

Die Familie befindet sich heute, wie die gesamte Welt, in einer Übergangsphase. In allen Kulturkreisen zerfallen oder zerbrechen Familien unter dem Druck von wirtschaftlichem und politischem Umbruch. Sie werden angesichts der sittlichen und religiösen Verwirrung immer schwächer.

“Die Bedingungen, unter denen die Familie lebt, gelten auch für die Nationen – was in der Familie geschieht, spielt sich auch in der Nation ab.” (Foundation of World Unity, S. 100)

Die Bahá’í halten diese Unordnung für ein Zeichen, dass die Menschheit sich bei ihrer kollektiven Entwicklung auf ein neues Zeitalter zubewegt, das Zeitalter der Reife. Da die Familie die Kerneinheit der Gesellschaft bildet, muß sie bei diesem Prozess ebenfalls umgeformt und neu belebt werden, und zwar nach denselben Prinzipien, die die gesamte Zivilisation neu gestalten.

Das Schlüsselprinzip für dieses neue Zeitalter ist die Einheit der Menschheit. “Das Wohlergehen der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit,” versicherte Bahá’u’lláh, der Stifter des Bahá’í-Glaubens, schon vor mehr als einem Jahrhundert, “sind unerreichbar, wenn und bevor nicht ihre Einheit fest begründet ist.” (Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, S. 296) Das Anerkennen der gegenseitigen Verflechtung und Abhängigkeit aller Völker bedeutet, dass auf diesem Planeten jeder Teil der Gesellschaft einschließlich der Familie neu gestaltet werden muss.

Einheit in der Familie

“Wenn in einer Familie Liebe und Einklang herrschen, wird diese Familie vorankommen und geistig erleuchtet werden.” (Einheit der Familie, S. 22)

Die Bahá’í-Einstellung gegenüber der Einheit der Familie verbindet Elemente traditioneller Weisheit mit fortschrittlichen Grundsätzen und praktischen Mitteln. Wenn wir uns fest an diese Lehren halten, bilden sie ein Bollwerk gegen die Kräfte des Zerfalls und schaffen Rahmenbedingungen für die Gründung starker, gesunder, einiger Familien.

Grundlage und Voraussetzung für eine Bahá’í-Familie ist die liebevolle Beziehung zwischen Mann und Frau. Die Ehe ist als göttliche Einrichtung dazu bestimmt, ein Paar “körperlich und geistig” so zu verbinden, “…daß sie einander ständig in ihrem geistigen Leben vervollkommnen”. (Einheit der Familie, S. 12).

Ein Mann und eine Frau, die sich aus freien Stücken füreinander entschieden und die Zustimmung ihrer Eltern zu Heirat bekommen haben, heiraten dem Bahá’í-Gesetz entsprechend in Anwesenheit von Zeugen, die das gewählte Verwaltungsgremium der Gemeinde, der örtliche Geistige Rat, benannt hat. Braut und Bräutigam sprechen: “Wahrlich, wir wollen alle an Gottes Willen festhalten” (Liebe und Ehe, S. 37), und mit diesen Worten verpflichten sich beide Gott und dadurch auch einander gegenüber.

Ein Zweck der Ehe ist, eine neue Generation von Menschen ins Leben zu rufen, die Gott lieben und der Menschheit dienen. Daher hat die Familie zur Aufgabe, eine liebevolle, von Achtung geprägte und harmonische Beziehung zwischen Eltern und Kindern zu schaffen.

Harmonie und Zusammenarbeit werden in der Familie wie in der Welt durch ein ausgewogenes Maß an Rechten und Pflichten bewahrt. Alle Familienmitglieder “haben gegeneinander und gegenüber der Familie als Ganzes Pflichten und Verantwortlichkeiten,” die “wegen der natürlichen Beziehungen der Familienangehörigen zueinander” verschieden sind (Einheit der Familie, S. 48).

Kinder haben z.B. die Pflicht, ihren Eltern zu gehorchen. Sie haben aber dementsprechend auch ein Anrecht auf Fürsorge, Erziehung und Schutz. Die Mütter, die sie zur Welt bringen und als erste erziehen, sind in erster Linie, aber nicht ausschließlich, für ihre geistige Erziehung und ein liebevoll umhegendes Zuhause verantwortlich. Die Väter tragen hauptsächlich, aber wiederum nicht ausschließlich, die Verantwortung für das materielle Wohl der Familie und die formelle Ausbildung der Kinder.

Die in den Bahá’í-Lehren befürworteten sittlichen Maßstäbe für den einzelnen verurteilen viele jener Faktoren, die zum Zerbrechen von Familien beitragen. Alkohol sowie Drogen, die das Bewusstsein verändern, sind den Bahá’í verboten. Keine Art der Gewalt oder des Missbrauchs wird in der Familie jemals geduldet. So steht in den Heiligen Schriften der Bahá’í zu lesen:

“Die Unversehrtheit der Familienbande muß beständig beachtet werden, und die Rechte der einzelnen Mitglieder dürfen nicht verletzt werden.” (Liebe und Ehe, S. 44)

Obwohl Bahá’u’lláh die Scheidung nachdrücklich missbilligt, wird sie auf Grund von unüberwindbarer Abneigung zwischen den Ehepartnern erlaubt. Sie kann aber erst nach Ablauf eines Wartejahres, in dem das Paar getrennt leben und sich intensiv bemühen muss, seine Schwierigkeiten beizulegen, bewilligt werden. Auf diese Weise wird es vor übereilten Entscheidungen und unbesonnenen Emotionen beschützt. Dadurch gelingt vielen Paaren, ihre Ehe im Laufe dieses Jahres des Nachdenkens wieder in Ordnung zu bringen. Sollte sich dennoch zeigen, dass eine Aussöhnung unmöglich ist, kann sich das Paar dann scheiden lassen.

Die Gleichwertigkeit der Geschlechter

Der Grundsatz der Gleichwertigkeit verändert in der Bahá’í-Ehe die Beziehung zwischen Mann und Frau. Da ihr gleichlautendes Ehegelöbnis ihren Status als gleichberechtigte Partner beinhaltet, sollte weder der Mann noch die Frau dominieren. Entscheidungen sollten gemeinsam getroffen werden.

Stets sollte in der Familie wie in der gesamten Gesellschaft “…nicht despotische Machtausübung, sondern der Geist freier, liebevoller Beratung” (Einheit der Familie, S. 47) die Atmosphäre bestimmen.

Die Prinzipien der Bahá’í-Beratung helfen, jedes in der Familie vorkommende Problem offen, ehrlich und taktvoll zu besprechen. Dabei soll ermöglicht werden, dass “die Wahrheit offenbar wird” (Beratung, S. 11) und zwar in einer Weise, dass das Problem zum Wohle aller gelöst wird. Wenn ein Ehepaar oder eine Familie die Beratung richtig handhaben, ist sie ein wirksamer Weg zum Bewahren der Einheit.

Ein Ehepaar, das die Gleichwertigkeit akzeptiert und von der Beratung Gebrauch macht, wird eine Flexibilität erlangen, die ihm ermöglicht, die Anforderungen einer sich rasch verändernden Welt zu bewältigen. Obwohl Mann und Frau in bestimmten Bereichen sich gegenseitig ergänzende Fähigkeiten und Aufgaben haben, sind die Rollen nicht starr definiert, sondern können, wenn nötig, angepasst werden, um den Bedürfnissen jedes Familienmitglieds wie auch der ganzen Familie zu entsprechen. Obwohl die Frauen ermutigt werden, ihre berufliche Laufbahn zu verfolgen, sollte dies in einer Weise geschehen, die mit ihrer Mutterrolle nicht in Konflikt gerät. Gleichzeitig werden die Väter von Pflichten im Haushalt und dem Großziehen der Kinder nicht freigestellt.

Wenn die Beziehungen innerhalb der Familie von der ihnen gebührenden Gerechtigkeit bestimmt sind, wird dies die Errichtung des Friedens in der Welt entscheidend fördern. Solange den Frauen die Gleichberechtigung und die Achtung in der Familie verweigert wird, entwickeln Männer und Söhne schädliche Einstellungen und Gewohnheiten, die sie an den Arbeitsplatz, in die Politik und schließlich in die internationalen Beziehungen hineintragen. Sobald immer mehr Kinder in Familien aufwachsen, in denen die Rechte aller Mitglieder respektiert und Probleme mit Hilfe von Beratung gelöst werden, steigt die Aussicht auf Frieden in der Welt erheblich.

Erziehung und Familie

Das Kind erhält seine Bildung zwar in der Schule, aber sein Charakter und seine sittliche und geistige Einstellung wachsen zuhause heran und werden hier geformt. Deshalb muss die Familie in allen Tugenden geschult werden. Geduld, Treue, Vertrauenswürdigkeit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und ähnliche Tugenden sind die Bausteine des Charakters. Die Tugenden, die in jedem heiligen Glauben als allgemein gültige Elemente der Geistigkeit bezeichnet werden, sind die Widerspiegelung des Göttlichen in jedem Menschen.

Bei jedem Familienmitglied sollen also die edelsten Eigenschaften und Werte gehegt und gepflegt werden. Die Eltern müssen aber auch für die ineinander greifende Entwicklung aller in ihren Kindern schlummernden Fähigkeiten im geistigen, sittlichen, intellektuellen, gefühlsbedingten und körperlichen Bereich sorgen. Mädchen und Jungen sollten also eine Schulbildung auf der Basis eines in den Grundzügen identischen Lehrplans erhalten. Sollten begrenzte finanzielle Mittel eine Entscheidung erfordern, so ist den Mädchen als den künftigen Erzieherinnen der nächsten Generation vor den Jungen ein “Einschulungsvorrecht“ einzuräumen.

Die Familie und die Gemeinde

Im Bahá’í-Glauben arbeiten über 17.000 Ortsgemeinden in über 200 unabhängigen Ländern und Territorien. In gewissem Sinne funktionieren diese Gemeinden wie erweiterte Familien.

Bahá’í gibt es in allen Nationen, ethnischen Gruppen, Kulturen, Berufen und Gesellschaftsschichten. Obwohl die Art und Weise, wie Bahá’í-Hochzeiten gefeiert werden, in den einzelnen Kulturkreisen recht unterschiedlich ist, sind die Gesetze und die Trauformel weltweit gleich und gelten, ob beide Partner Bahá’í sind oder nicht. Die Bahá’í haben überall auf der Welt die Erfahrung gemacht, dass die Bahá’í-Prinzipien und -Gesetze, die das Bahá’í-Familienleben kennzeichnen, Liebe und Einheit fördern.

Fazit

So wie die hier genannten Grundsätze in der ganzen Welt in stets zunehmendem Maße in die Praxis umgesetzt werden, entstehen Familien, die imstande sind, beim Aufbau einer geeinten Weltgesellschaft eine wichtige Rolle zu spielen, denn letztendlich muss zwischen Familie, Nation und Weltkultur unweigerlich eine Verknüpfung geschaffen werden:

“Vergleiche die Nationen der Welt mit den Mitgliedern einer Familie. Eine Familie ist eine Nation im Kleinen. Erweitere einfach den Kreis des Haushalts, und du erhältst die Nation. Vergrößere den Kreis der Nationen, und du hast die gesamte Menschheit.” (Foundations of World Unity, S. 100)