Welt-Friedensgipfel zur Jahrtausendwende: Eine Baha'i-Perspektive

Statements

Welt-Friedensgipfel zur Jahrtausendwende: Eine Baha'i-Perspektive

Vorgetragen von Dr. Albert Lincoln, Generalsekretär der Baha'i International Community

New York—29 August 2000

Herr Generalsekretär, Exzellenzen, verehrte Teilnehmer, meine Damen und Herren, vor über einem Jahrhundert hat eine ehrwürdige religiöse Gestalt, verbannt auf einen weit entfernt gelegenen Vorposten des Osmanischen Reiches, eine Vision zum Ausdruck gebracht, die unsere Überlegungen auf dieser historischen Versammlung inspirieren könnte. An einen seiner Anhänger schrieb Bahá’u’lláh diese Worte:

“Unsere Hoffnung ist, dass sich die religiösen Führer der Welt und ihre Herrscher vereint für die Neugestaltung dieses Zeitalters und die Wiederherstellung seiner Wohlfahrt erheben werden. Lasst sie, nachdem sie über seine Nöte nachgedacht haben, zusammen beraten und nach sorgsamer, reiflicher Überlegung einer kranken, schwer leidenden Welt das Heilmittel darreichen, dessen sie bedarf.”

Unsere Welt macht schnelle und weitreichende Veränderungen durch und bringt die Menschheit immer enger zusammen in etwas, das manche als globales Dorf bezeichnet haben. Kulturen und Völker, die während des größten Teils der Geschichte isoliert voneinander gelebt haben, stehen sich nun gegenüber und gehen täglich miteinander um. Leider haben sozialer Fortschritt und vermehrte Weisheit und Verständnis mit dem materiellen Fortschritt nicht Schritt gehalten, so dass unser globales Dorf kein glücklicher und friedlicher Ort ist. Tatsächlich ist für ihre verantwortlichen Führer die Zeit gekommen, zusammen zu beraten und über die Zukunft nachzudenken.

Unsere Kinder sind die Zukunft

Abgesehen von den aktuellen Krisen und Konflikten, droht eine der größten Gefahren, mit denen die Menschheit konfrontiert wird, von einer Generation von Kindern, die in einem moralischen Vakuum aufwachsen. Wir fühlen mit den Kindersoldaten in Afrika, den Kinderprostituierten in Asien und den verzweifelten Straßenkindern in den zahllosen Slums und Flüchtlingslagern der Welt - allen Opfern sowohl geistiger als auch materieller Armut. Aber wir dürfen auch nicht die Millionen von jungen Menschen vergessen, die in Gesellschaften aufwachsen, deren traditionelle Wertesysteme zerstört sind, und diejenigen, die seit Generationen durch eine dogmatisch materialistische Erziehung geistiger Erziehung beraubt wurden. Und falls wir es uns bei der Suche nach Ursachen oder Heilmitteln zu einfach machen, sollten wir auch an jene jugendlichen Produkte des permissiven Liberalismus des Westens denken, von denen einige genauso schwer bewaffnet und gewaltbereit sind, wie ihre Altersgenossen in weniger reichen Ländern.

Jedes Kind ist potenziell das Licht der Welt – und ihre Finsternis. Die Lampen dieser Seelen zu entzünden ist eine Verantwortung, die wir gemeinsam übernehmen müssen, wenn die Zivilisation gedeihen soll. Kinder dürfen des Lichtes der moralischen Erziehung nicht beraubt bleiben, besonders Mädchen nicht, da sie die Werte an nachfolgende Generationen weitergeben. Tatsächlich sind gut ausgebildete Frauen einer der wichtigsten Schlüssel zum Weltfrieden.

Was wird unsere Antwort sein?

Hier, meine ich, ist eine Herausforderung, auf die wir, die wir uns hier auf diesem Gipfel versammelt haben, antworten können und müssen.

Abgesehen von der bemerkenswerten Reife im interreligiösen Dialog, markiert dieses Treffen religiöser Führer im Saal der Vollversammlung der Vereinten Nationen am Vorabend des Millennium-Gipfels der Staats- und Regierungschefs der Welt einen historischen und entscheidenden Schritt nach vorn bei der Schaffung des nötigen gegenseitigen Respekts und der Kooperation zwischen religiösen und politischen Führern. Das sind die Voraussetzungen, ohne die der Weltfrieden und das Wohlergehen der Menschheit wohl unerreichbar sind.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Wir vertreten weder das Verwischen von Grenzen noch eine Mischung von Religion und Politik. Die harmonische Zusammenarbeit dieser zwei Gruppen von Führungspersönlichkeiten ist umso wichtiger, weil ihre Rollen sich zugleich von einander abheben und ergänzen.

Die Rolle der Religion

Gerechterweise muss man zugeben, dass im Laufe der Geschichte den Menschen viel Unrecht und Leid im Namen der Religion zugefügt wurde. Sogar heute noch trägt religiöse Propaganda und Verhetzung in vielen Regionen der Welt zu Angst, Hass und Kampfhandlungen bei. In den Bahá’í-Schriften steht, dass es besser wäre, ohne Religion zu sein, wenn sie zu Feindschaft führt.

Wenn man allerdings die Lehren der Stifter der großen Religionen ohne Vorurteil betrachtet, bieten sie keinerlei Unterstützung für die Auseinandersetzungen und Vorurteile, die den größten Teil der Menschheit erschüttern. Intoleranz und Fanatismus stellen allenfalls Verzerrungen echter religiöser Werte dar.

Bahá’u’lláh beschreibt die Religion als soziale Kraft und erklärt: “Die Religion ist das wichtigste Mittel zur Begründung von Ordnung in der Welt und zur Befriedung aller, die darin wohnen.” “Das Ziel der Religion”, bekräftigt er ”besteht darin, Einheit und Eintracht unter den Völkern der Welt zu stiften; macht sie nicht zur Ursache für Zwist und Streit.”

Der wahre und dauerhafte Frieden, den wir alle anstreben, hängt von der Einheit ab. Wenn wir vereint sind – eine Einheit, die Mannigfaltigkeit begrüßt und wertschätzt – können alle Probleme gelöst werden. Zunächst einmal würde die gewissenhafte Anwendung der Lehre, dass wir andere so behandeln sollten, wie wir selbst behandelt werden möchten – ein Kernprinzip aller Religionen – eine grundlegende Wandlung in der Welt bewirken.

Um eine konstruktive Rolle bei der Gestaltung der Zukunft der Menschheit zu spielen, müssen sich religiöse Führer auf den Kern der positiven moralischen Werte konzentrieren, die alle religiösen Traditionen gemeinsam haben, statt auf deren Unterschiede. Jeder von uns mag glauben, seine Religion sei die beste, aber wir müssen die geistige Wahl anderer akzeptieren, selbst wenn wir der Meinung sind, dass sie irren. Wenn die Religionen unbedingt miteinander konkurrieren müssen, dann sollte jede danach streben, sich bei der Führung von Menschen zu friedlicher Koexistenz, zu Rechtschaffenheit und gegenseitigem Verständnis auszuzeichnen.

Die Religion hat die Macht, die Herzen und den Geist der Menschen in Bewegung zu versetzen und sie vorwärts zu bewegen auf den Pfad zu Frieden und gegenseitigem Verständnis. Sie hat eine moralische Autorität und eine ethische Empfindsamkeit, welche die Ressourcen und die Fachkompetenz von Regierungen und der Zivilgesellschaft ergänzt. Tatsächlich stand die Religion im Zentrum vieler großer sozialer Bewegungen der Vergangenheit. Es ist die besondere Rolle der religiösen und geistigen Führer weit vorauszuschauen, nicht vom Elfenbeinturm aus, sondern aus einer Perspektive, die von unmittelbaren Zwängen und den oftmals partisanenähnlichen Kämpfen des politischen Alltags losgelöst ist.

Unsere verstörte Welt bedarf dringend eines moralischen Kompasses, der sich weder an vergänglichen Modetrends noch am durchdringenden Materialismus des modernen Zeitalters orientiert. Die Tatsache, dass wir uns zu diesem Gipfel versammelt haben, zeigt, dass die Welt sich dieses Bedürfnisses bewusst geworden ist, sowie der Möglichkeiten, die den religiösen Traditionen der Welt innewohnen. Sollen wir uns nicht zusammen erheben, um diese Herausforderung anzunehmen? Und wenn die Aufgabe uns gewaltig erscheint, sollen wir an unsere Kinder denken, unser wertvollstes Pfand.

Besondere Empfehlungen

Die vorgeschlagenen “International Advisory Councils of Religious and Spiritual Leaders” (Internationale Beratungsräte der religiösen und geistigen Führer) sollten dazu dienen, die Kraft der Religion zur Schaffung einer besseren Welt für alle, auch für die Kinder, zu kanalisieren. Die regionalen Advisory Councils könnten demselben Zweck auf örtlicher und nationaler Ebene dienen. Diese neuen Einrichtungen haben ein einmaliges Potenzial für konzertiertes und nachhaltiges Handeln durch religiöse Führer zur Unterstützung der Prozesse, die zum Weltfrieden führen. Deshalb haben wir sie ins Zentrum unserer besonderen Empfehlungen gestellt.

Die Mitglieder der Advisory Councils sollen aus möglichst vielen Teilen der menschlichen Gesellschaft stammen und alle religiösen und geistigen Traditionen der Welt vertreten. Wir empfehlen, dass die Advisory Councils ihre Arbeit auf der Basis von Beratung leisten und ihre Entscheidungen so weit wie möglich einstimmig treffen. Wir denken auch, dass die Wahl oder Ernennung einer ständigen Leitung lieber vermieden werden soll.

Es wäre eine wesentliche Aufgabe bei allen Funktionen der Advisory Councils, die grundsätzlichen Werte, die allen Religionen und geistigen Traditionen gemeinsam sind, festzustellen. Das daraus resultierende gemeinsame Verständnis würde eine feste Grundlage bilden für gemeinsame Bemühungen im Geiste des Dienstes an der ganzen Menschheit.

Eine ihrer dringendsten Aufgaben wäre es, mit den passenden Organisationen der UN wie der UNESCO, UNICEF, UNDP und der Weltbank zusammen zu arbeiten, um den Bedarf für geeignete Lehrpläne und Erziehungssysteme für die moralische Erziehung und Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen anzugehen. Die regionalen Advisory Councils könnten zu diesem Zweck dabei behilflich sein, auf nationaler und regionaler Ebene Beratungsprozesse zu fördern, an denen Erziehungsexperten und Vertreter der religiösen und geistigen Traditionen der betreffenden Bevölkerungsgruppen beteiligt sind.

Die Advisory Councils könnten aufgefordert werden, Vermittlerdienste anzubieten oder zu organisieren, wenn es Konflikte oder potentielle Konflikte gibt, bei denen es um religiöse Differenzen geht oder bei denen religiöse oder geistige Führung wirkungsvoll wäre.

Als Beitrag zum Wiederaufbau von Gesellschaften, die durch vorangegangene Konflikte zerstört wurden, könnten sie auch die Entwicklung und Anwendung von Programmen, die Versöhnung herbeiführen und Vertrauen wieder herstellen, empfehlen und fördern.

Das Mandat des International Advisory Council sollte das Recht einschließen, den gesamten Umfang der Politik, Programme und Prozesse der Vereinten Nationen zu überprüfen und hierzu Rat zu geben. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass die UN und ihre Vertretungen trotz ihrer vielen beeindruckenden Leistungen oft eine materialistische Sicht der Welt widerspiegeln und begünstigen, die von den geistigen Werten, an denen die Mehrheit der Menschheit festhält, abweicht. Wir meinen, dass die Eintracht in der Arbeit der Vereinten Nationen und die Effektivität ihrer Programme durch einen Ansatz, der geistiger ist und auf den gemeinsamen Grundwerten der religiösen Traditionen der Welt fußt, nur gesteigert wäre.

Schluss

Wenn die Menschheit der Herausforderung, den Weltfrieden zu errichten, gerecht werden soll, muss die geistige Energie, die in jedem von uns latent vorhanden ist, freigesetzt und auf diese edle Aufgabe gerichtet werden. Die Religion kann die Vision liefern und die geistige Energie entfesseln, die benötigt wird, um die Menschheit hin zu einer neuen Weltordnung zu führen, die ihres Schicksals würdig ist.

Ein globales Gemeinwesen auf der Grundlage von Einheit in Mannigfaltigkeit aufzubauen, das sowohl von Liebe als auch von Gerechtigkeit belebt wird, ist keine einfache Aufgabe. Aber wir müssen sie angehen, für uns selbst, für die Kinder von heute und für die noch ungeborenen Generationen. Während wir dies tun, können wir uns sicher auf den Beistand des souveränen Schöpfers des Universums verlassen, mit welchem Namen wir Ihn auch immer anrufen.

Unsere Rolle als Teilnehmer an dieser historischen Versammlung ist sowohl einfach als auch herausfordernd. Lassen Sie mich schließen mit diesem Auszug aus den Bahá’í-Schriften:

“Beratet in größter Freundlichkeit und im Geiste vollkommener Brüderlichkeit, und verbringt die kostbaren Tage eures Lebens damit, die Welt zu bessern.”